Das Leuchten
konnte meinen Zorn nicht verhehlen. »Es war eine Erziehungsanstalt.«
»Genau genommen ja«, gab er achselzuckend zu. »Aber wenn du diese Burschen gesehen hättest, würdest du es verstehen. Das waren alles Verhaltensgestörte und Kriminelle.«
»Das waren noch Kinder«, hielt ich dagegen. »Jünger als ich. Und die Regierung hat sie in Handschellen auf dem Meeresboden festgehalten.«
»Und was stört dich daran?«
»Sie lügen, wenn Sie sagen, dass es ein Gefängnis war. Sie verschleiern die Taten der Regierung.«
Docs Teller fiel scheppernd zu Boden. »Du denkst, ich will nicht über das sprechen, was dort passiert ist? Glaubst du, ich hätte es nicht versucht?« Seine Augen sprühten vor Zorn. »Vor fünf Jahren hat die Regierung die Akte Seablite als vertraulich eingestuft, und wenn jemand dennoch darüber sprach, verlor er alles, was ihm lieb und teuer war. Ich zum Beispiel wurde degradiert und als Lügner bezeichnet. Also halte mir keine Predigten über Anstand, Ty. Wir haben alle unsere Geheimnisse.«
Ich zögerte kurz weiterzusprechen, aber ich sah keinen Grund, warum ich es ihm verschweigen sollte. »Gemmas Bruder war in Seablite.«
Der Doc wurde so weiß wie eine Klaffmuschel. »Wie war sein Name?«
»Richard Straid.«
Nachdenklich rieb der Doc seine narbigen Hände.
»Sie erinnern sich an ihn. Gehört er zur Seablite-Gang?«
»Nein«, erwiderte der Doc gedehnt, noch immer tief in Gedanken versunken. »Er war der Schürfer, den sie umgebracht haben.«
Die Trauer lähmte mich wie das Gift des Kugelfischs. Die Trauer um den sommersprossigen Jungen auf dem Foto. Aber Gemma tat mir am meisten leid.
»Vor einer Stunde hat der Computer das Ergebnis geliefert«, fuhr der Doc leise fort, und jetzt sah er mir in die Augen. »Die DNA von Richard Straid war in der Datenbank gespeichert, weil er in einer staatlichen Einrichtung wa r – in einer Besserungsanstalt.«
»Er ist zusammen mit den anderen ausgebrochen«, vermutete ich. Ich versuchte, die Puzzleteile so zusammenzufügen, dass sie einen Sinn ergaben. »Danach hat er sich auf eigene Faust durchgeschlagen. Und dann? Vielleicht hat die Bande geglaubt, sie könnte ihm nicht mehr vertrauen?«
»Er kannte ihre richtigen Namen«, pflichtete mir der Doc bei.
»Also haben sie ihn aufgespürt und umgebracht.« Schon bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Vielleicht wäre es besser, Gemma nichts davon zu sagen. Was schadete es, sie in dem Glauben zu lassen, dass ihr Bruder immer noch irgendwo dort draußen war?
»Wie wir gerade festgestellt haben: Ehrlich währt am längsten«, sagte der Doc, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Hol sie her und ich bringe es ihr schonend bei.«
»Schon gut«, sagte eine leise Stimme hinter uns. »Ich habe alles gehört.«
21
Auf dem Heimweg kam mir Gemma wie eine Seelilie vo r – blass und zerbrechlich. Mum und Dad warfen sich besorgte Blicke zu und flüsterten die ganze Fahrt über. Der Doc hatte sie über alles, was geschehen war, ins Bild gesetzt, ihnen aber nicht gesagt, dass Gemma aus dem Internat geflohen war. Der Doc hatte Wort gehalten und geschwiegen. Doch das hatte nicht viel geholfen, denn als wir im Moonpool ausstiegen, schrillte unser Videofon. Dad hob ab und das Gesicht einer Frau erschien auf dem Bildschirm.
»Oh nein!« Hinter mir wurde Gemma immer kleiner. »Das ist M s Spinner, die mich immer herumschubst.«
Überrascht schaute ich auf das Videofon. Ich hatte sie mir wie eine dieser Neuen Puritaner vorgestellt. Mann, wie sehr hatte ich mich da geirrt! M s Spinner war eine ganz besondere Spezies der Topsider. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, die alles Natürliche in ihrer Erscheinung ausgemerzt hatte. Ihre Dauerwelle war bunter als ein Papageienfisch und ihre Gesichtszüge sahen aus, als hätte sie sie mit Wachsmalkreide nachgezogen. Ihr Anblick jagte mir jedenfalls Angst ein.
»Sind Sie John Townson?«, fragte sie freundlich, aber ich kaufte ihr die Liebenswürdigkeit nicht ab.
»Der bin ich«, antwortete Dad in einem Ton, der ebenfalls skeptisch klang.
»Ich bin Eudora Spinner, die Leiterin des Elmira-Internats«, sagte sie mit einem aufgesetzten Lächeln. »Heute Abend bekam ich einen Anruf von einem Ranger namens Grimes. Er hat mir berichtet, dass sich eine unserer Schutzbefohlenen möglicherweise bei Ihnen aufhält.«
Dad winkte Gemma zu sich. Ich wollte sie zwar wegziehen und verstecken, aber ich wusste genau, dass meine Eltern da nicht mitspielen würden.
Gemma trat so langsam vor
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