Das Leuchten
Kopf, »da oben leben.«
»Genau.«
Sie ließ die Hand sinken. »Du lenkst vom Thema ab.«
»Weil es im Meer genug reale Dinge gibt, über die man sich den Kopf zerbrechen kann. Da sollte man sich nicht auch noch Gedanken über solche Märchen machen.«
»Okay, schön.« Umständlich legte sie sich den Sicherheitsgurt an. »Vielleicht hast du ja auch keine Dunkle Gabe. Aber diese Art von Begabung gibt es wirklich.«
»Ja, genau wie Seejungfrauen.«
Die nächste Viertelstunde fuhren wir schweigend dahin, während der Ozean vor uns eine Symphonie aus Blautönen war. Schmollend starrte Gemma durchs Sichtfenster.
Zwischen den Pionieren und denen von oben herrschten von jeher Spannungen. Nach allem, was geschehen war, den Überschwemmungen, dem unterseeischen Erdrutsch, der unsere Telekommunikationsleitungen zerstört und uns vom Rest der Welt abgeschnitten hatte, nach den zweiundfünfzig Jahren, die wir nun schon unter Notstandsgesetzen lebten, hätte man annehmen können, die Menschen hätten sich zusammengerauft. Aber weit gefehlt. Die Topsider klammerten sich an das bisschen Land, das noch übrig war, und sie verstanden nicht, weshalb wir es ihnen nicht gleichtaten. Für sie war es ganz natürlich, Hunderte von Menschen auf einer einzigen Quadratmeile zusammenzupferchen. Aber unter Wasser zu leben? Das war für sie völlig unnatürlich. Den Menschen, die in den Unterseeischen Siedlungen lebten, wurde noch nie viel Respekt entgegengebracht. Dabei waren sie es, die das ganze Volk mit Nahrungsmitteln versorgten und sich um die Energiequellen kümmerte n – die Gezeiten und die Heißwasserquellen. Trotzdem waren wir in den Augen der Topsider nichts als Freaks.
Gemma gingen offensichtlich ähnliche Gedanken durch den Kopf. Plötzlich sagte sie: »Es gibt hier unten einen Jungen, der mit Delfinen reden kann.«
Ich unterdrückte einen Seufzer. »Wir können alle mit Delfinen reden. Sie sind wie Hunde.«
»Ich meine, er versteht sie.« Inzwischen hatten wir das Kontinentalschelf erreicht und wurden von großen Fischschwärmen umringt, aber Gemma achtete nicht darauf, sondern heftete ihre blauen Augen auf mich. »Er heißt Akai. Ein Arzt hat in einer medizinischen Fachzeitschrift darüber geschrieben.«
»So was liest du?«
»Nein«, gab sie zu. »Aber der Bericht kursierte im Newsweb. Der Arzt meint, Akais Gehirn habe sich wegen des Wasserdrucks hier unten anders entwickelt.«
Ich verdrehte die Augen, doch sie fuhr fort: »Erwachsenen macht das nichts aus. Ihre Gehirne sind schon voll entwickelt. Nur Kinder haben die Dunkle Gabe.«
»Nette Theorie.« Mit einem Ruck am Steuerknüppel brachte ich das Jetfin in die horizontale Lage. »Jetzt verstehe ich auch, warum die Leute den Blödsinn immer noch glauben. Im Newsweb stand wohl nie, dass die Geschichte nur eine Zeitungsente war.«
»Du weißt also etwas von Akai«, sagte sie triumphierend.
»Ich weiß nur, dass man wegen diesem Quatsch drauf und dran ist, das Benthic-Territoriu m – unsere Unterwasserwel t – zu ruinieren.« Ich konnte meinen Ärger nicht länger unterdrücken. »Die Leute haben Angst, sich hier niederzulassen, weil sie denken, dass ihre Kinder dann verrückt werden.«
»Ich fände es cool, so eine Dunkle Gabe zu haben.«
»Deine Eltern wären da sicher anderer Meinung. Die würden sich Sorgen machen, dass du einen Gehirnschaden kriegst.«
»Meine Eltern sind tot.«
Ich zuckte zusammen. Sie hatte das einfach so gesagt, als würde es keine Rolle spielen. »Das tut mir leid.«
»Ich stehe unter der Vormundschaft des Staatenbundes. Keine große Sache.«
Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu.
»Wie wär’s damit: Du glaubst mir, dass es mir gut geht, und ich glaube dir, dass du keine Dunkle Gabe hast.«
Ein riesengroßer, leuchtender Ball tauchte vor uns auf. Eine Insel des Lichts in der kobaltblauen See.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Na die Handelsstation«, erwiderte ich überrascht. »Hier hast du dir doch das Jetfin geliehen.«
»Nein, das war auf der Wasseroberfläche. Auf einem großen, schwimmenden Ring mit vielen Menschen.«
»Das war nur das Oberdeck. Von dort aus kann man mit einem Aufzug nach unten fahren. Siehst du das Tragseil?«
Die Handelsstation, die am Meeresboden verankert war, schwebte dreißig Meter unter der Wasseroberfläche. Ein dickes Seil verband sie mit der schwimmenden Plattform über dem Wasser, während Ankerketten, die mit kleinen Lichtern gesichert waren, sich in der finsteren Tiefe
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