Das Leuchten
Stockwerke unter mir. Sie ging zielstrebig durch den Saloon. Dort unten war alles dunkel und verlassen, auf den Tischen standen noch halb volle Gläser und in den Aschenbechern glommen Seetangzigarren vor sich hin. Ich lief die erste Eisentreppe hinunter und hielt am Anfang der zweiten Treppe inne. Gerade als ich nach Gemma rufen wollte, nahm ich eine Bewegung wahr. Eine dunkle Gestalt schlich ihr nach. Shade!
»Hinter dir!«, stieß ich krächzend hervor. Aber es war schon zu spät. Wie eine Seeschlange schnellte Shades Hand an Gemmas Gesicht und hielt ihr den Mund zu. Ich schlang die Beine um das Treppengeländer und rutschte daran herab. Doch ich war unbewaffnet. Ich konnte Shade nicht davon abhalten, Gemma wehzutun. Ich landete auf dem Gitterrost und rappelte mich sofort wieder auf.
»Lass sie los!«, brüllte ich.
Shade drehte Gemma zu sich um. Ich rannte auf die andere Seite des Stegs, zur Treppe, die in den Saloon führte. Im Laufen riskierte ich einen Blick über das Geländer.
Als Gemma Shade ansah, wurde seine Haut glatt und die dunkle Farbe verschwan d – auch die Tätowierunge n –, bis er fast weiß war. Aber er war kein Albino. Abgesehen von der verbundenen Wunde und dem verästelten Mal sah seine Haut jetzt ganz normal aus. Das Mal an meinem eigenen Arm begann zu schmerzen. Ich blieb auf dem oberen Absatz der letzten Treppe stehen. Weshalb hatte er es denn überhaupt nicht eilig wegzukommen?
Er hielt Gemma auch nicht gewaltsam fest. Eher sanft. Er blickte nach oben. Als er mich sah, wurden seine Augen erst perlweiß, dann verfärbten sich die Pupillen blau. Und plötzlich verstand ich.
Shade war Gemmas Bruder.
Dieser Richard war ganz anders als der auf dem Foto, aber trotz des kahl rasierten Kopfes und der starken Muskeln war der Mann neben Gemma eindeutig ihr Brude r – ihr blasser, sommersprossiger, blauäugiger Bruder. Gemma schlang die Arme um ihn.
Bei dem Anblick wurde mir schlecht. Hatte sie die ganze Zeit gewusst, dass Shade und Richard eine Person waren? Ihre Umarmung ließ jedenfalls nicht darauf schließen, dass sie überrascht war.
Während ich die Treppe hinabstieg, konnte ich den Blick nicht von dieser Wiedersehensszene abwenden. Vieles, was ich erlebt hatte, erschien jetzt in einem anderen Licht. Die dunkle Gestalt auf dem Anlegerin g – das war Shade gewesen, der Gemma dabei beobachtet hatte, wie sie ihre Verkleidung ablegte. Vielleicht hatte er sie in dem Moment wiedererkannt. Und als die Specter uns verfolgte, war er nicht hinter mir her gewesen, er hatte versucht, Gemma einzuholen. Und letzte Nacht war er nur ihretwegen in unser Haus eingedrungen.
Meine Übelkeit schlug in Wut um, als mir klar wurde, wie sehr er mich zum Narren gehalten und dass ich ihm unfreiwillig bei seiner Flucht geholfen hatte. Meine Füße landeten mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden des Saloons. Es klang wie das Echo meines Herzens.
Gemma drehte sich zu mir um und sah mich an. Nach einem Moment des Schweigens war mir klar, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Also sprach ich an ihrer Stelle.
»Das war eine großartige Show, die du heute Nacht abgeliefert hast. Ich habe wirklich geglaubt, du hättest Todesangst.«
»Ich wusste nicht, dass er Richard ist! Ich habe es erst erfahren, als du zum Ranger gegangen bist und wir beide allein waren.«
»Schon gut«, sagte ich, obwohl überhaupt nichts gut war.
»Woher hätte ich es denn wissen sollen?« Sie wandte sich an Shade. »Warum hast du mir letzte Nacht nicht gesagt, wer du bist?«
»Ich wollte warten, bis wir unter uns sind. Der Rest der Welt hält mich für tot.« Er warf mir einen durchdringenden Blick zu. »Und das sollte besser auch so bleiben.«
Was sollte diese unverhohlene Drohung? Aber immerhin ging es mir jetzt besser und ich kam mir nicht mehr wie der letzte Trottel vor, denn Gemma hatte bis vor einer halben Stunde ja selbst noch nicht gewusst, dass Shade ihr Bruder war.
»Du hast dein eigenes Blut im Boot verteilt?«, fragte Gemma ihn. »Aber der Doc hat gesagt, niemand kann so viel Blut verlieren, ohne zu sterben.«
»Er hat das Blut gesammelt«, riet ich ins Blaue hinein. »Er hat es eingefroren, einen halben Liter nach dem anderen.«
Shade grinste. »Ich wusste, dass du ein schlaues Kerlchen bist.«
»Aber was hilft dir das?«, fragte ich wütend. »Als Shade wirst du immer noch gesucht.«
»Um die Ranger mache ich mir keine Sorgen. Ich habe ein viel größeres Problem. Du hast übrigens dasselbe Problem, du
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