Das Lexikon der daemlichsten Erfindungen
berufen. Sein Nachfolger, Papst Benedikt XVI ., erhöhte deren Zahl noch einmal um 3000! Wie kommt es zu diesem psychisch und offenbar auch physisch gefährlichen abergläubischen Treiben?
Um 1788 malte Francisco de Goya diese Szene einer Teufelsaustreibung (Kathedrale von Valencia).
Der Exorzismus hat historisch scheinbar weit zurückreichende Wurzeln. Forschungen führen bis in die Vorzeit, in der es noch nicht einmal Ansätze zur Erklärung von Erkrankungenauf wissenschaftlicher Ebene – sei es psychologischer, psychiatrischer oder medizinischer Natur – gab. Schamanen heilten die Leidenden, und in ihrem animistischen Weltbild war alles beseelt, nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen, sondern auch Steine, Berge, Wolken, Gewitter und eben auch Krankheiten. Sie kannten den Geist der jeweiligen Krankheit in einem Sinne, wie wir auch heute noch etwa von dem Geist einer politischen Partei, dem Geist eines Ortes oder dem Geist einer bestimmten Handlung sprechen. Wenn die Schamanen einen Patienten heilen wollten, mussten sie ihn von dem Agens, eben dem Geist seiner Krankheit, befreien. Sie konnten ihn durch Heilpflanzen aus dem Körper treiben, die fortan als Zauberpflanzen galten, sie konnten suggestiv vorgehen, wie moderne Psychologen, und den Patienten für den Kampf mit dem Geist der Krankheit stärken, man könnte auch sagen, seine Selbstheilungskräfte mobilisieren, usw. Wie wir heute wissen, haben all diese Praktiken in den meisten Kulturen aber nichts mit einem Glauben an böse Geister oder – im esoterischen Sinne – mit negativen Energien zu tun, wie das erst viel später von manchen Hochreligionen gedeutet wurde. Die Stammesschamanen kannten und kennen in der Regel nur wertneutrale Kräfte (Geister oder Energien) am falschen Ort. Und so ist denn eine schamanische Geisteraustreibung viel mehr ein Weglocken des Geistes vom Patienten als die Verbannung eines bösen Dämons. Wird doch der herausgelockte Geist meist anschließend pfleglich versorgt und an einen für ihn angenehmen Ort gebracht. Das hat zum einen den Vorteil, dass er nicht mehr zurückkehren will, zum anderen, dass ihm auch sein gutes Recht zuteil wird, das er nach der Meinung der Schamanen wie jedes andere Wesen hat.
Mit dem Alten Testament änderten sich die Vorstellungen vom Wirken geistiger Kräfte auf den Menschen. Sie wurden zu Strafen und Prüfungen durch Gott selbst umgedeutet. Gott sendet vorsätzlich Geister, um Menschen zu schaden. So sucht den sündigen König Saul auf Gottes Geheiß ein Geist der Schwermut heim, und dem Propheten Zedekia sendet Gott einen Lügengeist, der diesen veranlasst, die sündhaften Könige von Juda und Israel unter falschem Vorwand zu einem Krieg zu drängen, der desaströse Folgen haben sollte.
Irgendwelche bösen oder gar teuflischen Dämonen aber, die von Gott unabhängig handeln, kennt das Alte Testament noch nicht. Die sind erst eine Erfindung des Christentums, das sich damit sowohl von animistischen Weltbildern wie vom Judentum und vom Islam abhebt. Vor allem im katholischen Glauben begannen satanische Dämonen, aus lauter Boshaftigkeit heraus vom Menschen Besitz zu ergreifen. Sie handelten von nun an eigenverantwortlich und haben noch heute nach Auffassung des Klerus persönliche Namen. So ist es denn auch ein fester Bestandteil im Ablauf des Exorzismus-Rituals, den Namen des Dämons herauszufinden, um ihn auf diese Weise zu bannen. Aus einer beispielsweise psychischen Krankheit wird ein höchst persönlicher Kampf zwischen Patient und teuflischer Macht. Das psychische Leiden wird tief im Patienten verwurzelt. Solchermaßen gebrandmarkt und vom Dämon besessen, trägt der Glaube sicher nicht zur Heilung bei. Im Gegenteil: Er macht Angst, und »Angst essen Seele auf«, wie ein afrikanisches Sprichwort sagt.
Im Falle der Studentin Anneliese Michel, die in einem streng katholischen Elternhaus groß wurde, ist sattsam belegt, dass sie den Dämonengeschichten der Priester glaubte und auf deren Rat sogar die ärztliche Behandlung ihres Epilepsieleidens abbrach. Sie hielt sich für zutiefst sündig und schuldbeladen. Weil sie aber nicht wusste, was sie sich eigentlich vorzuwerfen hatte, glaubte sie, sie sei verflucht. Ihrer offenbar immanenten Bosheit versuchte sie durch strenge Bußübungen zu begegnen; als aber auch die beiden großen Exorzismen sie von ihrem Leiden nicht befreienkonnten, hungerte sie sich regelrecht zu Tode. Einmal während eines Anfalls – Anneliese lebte in einem
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