Das Lexikon der daemlichsten Erfindungen
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Wer begibt sich schon gerne freiwillig in Abhängigkeiten, die ihm nichts anderes eintragen als Zeitverlust und drohendes Suchtverhalten? Offenbar Millionen Menschen, wie erstmals 1996/97 klar wurde, als ausgehend von Japan das Tamagotchi die Welt eroberte. Tamago ist das japanische Wort für Ei, und gotchi kommt vom japanisierten englischen Begriff für Uhr, also watch , nämlich wotchi . Tamagotchi bedeutet also nichts anderes als Eieruhr. Das Wort beschreibt das kleine Ding, das so heißt, recht gut: Es ist eiförmig und hat die Größe einer Sportstoppuhr. Aber nicht nur die Form hat etwas mit dem Ei zu tun. Der winzige Spielcomputer hat ein Display, auf dem nach dem ersten Einschalten das sehr grob gepixelte (16 x 32) Abbild eines kleinen Kükens schlüpft. Und sofort kommt auch die Uhr ins Spiel, denn das kleine virtuelle Wesen lässt seinem Spieler keine Ruhe mehr. Ständig will es gehegt und gepflegt sein. Zu den unmöglichsten Zeiten meldet es sich, weil es Durst hat, fressen will oder Streicheleinheiten einfordert. Glücklicherweise hat es manchmal auch ein Schlafbedürfnis. Vernachlässigt man den Cyberdämon in Taschenformat, dann verhungert oder verdurstet er oder stirbt gar kläglich an seelischer Vernachlässigung. Kümmert man sich um ihn allerdings wie eine junge Mutter um ihren Tag und Nacht nervenden Säugling, dann entwickelt er so etwas wie einen individuellen Charakter.
Als die japanische Firma Bandai das Tamagotchi 1996 auf den Markt brachte, war es in Japan sofort ein Verkaufsschlager. Schon im Folgejahr eroberte es dann auch die ausländischen Märkte, auch den deutschen. Allerdings erwies sich das alberne Spielzeug nicht als Dauerbrenner. Bereits nach wenigen Monaten hatten diemeisten Spieler die Nase voll davon. Es hatte den Reiz des Neuen verloren und die immer gleichen Aufgaben, die es stellte, wurden rasch langweilig.
Das erste Tamagotchi hatte eine Bildauflösung von gerade mal 16 x 32 Pixeln.
Das änderte sich, als die Firma Bandai im April 2004 das Nachfolgemodell Tamagotchi Plus (in Deutschland Tamagotchi Connexion Version 1) auf den Markt brachte und sogleich Woche für Woche rund 100 000 Stück davon verkaufte. Dieses neue Tamagotchi wartete mit Überraschungen auf: Es konnte sich sozial mit anderen Tamagotchihaltern vernetzen, sich mit einem Partner paaren und Junge bekommen, und es konnte dem Herrchenoder Frauchen seines Partners – oder seiner Partner – spontan Geschenke machen. Diese Überraschungskomponenten verhalfen ihm zu einem riesigen Verkaufsboom und zu einem regelrechten Tamagotchifieber. Schon in den Grundschulen bedeutete »Herr Lehrer, ich muss mal auf die Toilette« in Wirklichkeit oft: »Ich muss mal raus, um mich um mein Tamagotchi zu kümmern.«
FarmVille: Meine kleine Farm macht, am Computer gespielt, verdammt viel Arbeit.
Aber die Entwicklung ging noch weiter: 2005 wurde das Tamagotchi mit dem Internet verknüpft, und in den Folgejahren gab es dann immer neue Versionen mit rasch wachsenden Spielmöglichkeiten und neuen Charakteren. Aus dem World Wide Web ließen sich verschiedene virtuelle Objekte herunterladen, die beim Umgang mit dem blöden Küken hilfreich waren. Und für verendete Tamagotchis gab es im Netz sogar einen niedlichen pietätvollen Friedhof.
Spätestens jetzt erfüllte das Tamagotchi eine Reihe der heute von Neurowissenschaftlern identifizierten Voraussetzungen für Suchtgefahr: 1. Die feste Bindung an regelmäßiges Spielen, weil man sonst bestraft wird, das Tamagotchi kann ja verenden. Weil der Spieler mit anderen Spielern kooperiert, werden diese gleich mit bestraft, so dass der Halter zugleich an Sozialprestige verliert. 2. gibt es sowohl vorhersehbare wie überraschende Belohnungen für regelmäßiges und zeitaufwendiges Spielen. Da kündigt sich etwa Nachwuchs an, oder das Tamagotchi verfügt auf einmal über besonders positive Charaktereigenschaften; auch intensivere Sozialkontakte für Herrchen und Küken können sich anbahnen. 3. Als wichtig für die Entwicklung von Suchtverhalten haben die Neurologen auch das Zufallsprinzip erkannt. Nicht alles darf plan- oder berechenbar sein, sonst vergeht der innere Zwang, immer wieder mal in das Spiel reinzuschauen, um zu sehen, ob sich etwas Interessantes ereignet hat. 4. Der Appell an so etwas wie Verantwortungsgefühl: Der Spieler entscheidet durch sein gegebenenfalls nachlässiges Verhalten nicht nur über Leben und Tod des virtuellen Tierchens, er muss auch seinen
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