Das Licht, das toetet
gearbeiteten Zeigern und Gravuren Minuten und Stunden anzeigte, unter dem anderen verbarg sich neben weiteren Zeigern, deren Funktion Ian nicht kannte, ein Mondphasenkalender. Der dicke Rand der Uhr bestand aus mehreren silbernen und goldenen Ringen und hatte gleich drei Rädchen zum Aufziehen. Am meisten faszinierte Ian jedoch der Spruch, der auf der hinteren Klappe eingraviert war:
Seelen in Flammen. Zeit in Unruh. H. D. Boroughs.
Seelen in Flammen. Merkwürdig, überlegte Ian. Er hatte bisher immer gedacht, der Spruch sei ein Zitat aus einem Gedicht oder Poesiealbum – doch gestern hatte er genau das im Hangar gespürt: Seelen in Flammen.
Harvey Douglas Boroughs, dachte Ian wehmütig.
„Das Teil von deinem Großvater ist schon eigenartig.“ Wieder landete eine Handvoll Chips unter Zeros strengem Blick im Meer. „War der nicht Chemiker?“
„Physiker“, korrigierte Ian seinen Freund. „Er war Mitglied in der American Physical Society und gründete 1957 die Nuc in Berkeley.“
„Nuc? Nuclear …“
„Die Abteilung für Nuklear-Wissenschaften“, erklärte Ian. Er hatte seinen Großvater niemals kennengelernt. Es hieß, er sei an einem eiskalten Novembermorgen 1967 mit seinem Segelboot gekentert und ertrunken. Irgendwo vor San Francisco, an der Westküste der USA. Auf den wenigen Fotos, die er von seinem Großvater besaß, trug H. D. Boroughs stets eine lächerliche Nickelbrille mit dickem Gestell. Noch dazu präsentierte er auf den Bildern geradezu stolz seine linke Wange, auf der eine lange Narbe prangte. Nachdem seine Mutter ihm erzählt hatte, dass die Narbe von einem Fechtkampf stammte, hatte Ian nächtelang wach gelegen und sich die wildesten Geschichten ausgedacht.
Als sie in der fünften Klasse einen Aufsatz über ihre Vorfahren schreiben sollten, hatte Ian einen ganzen Sommer lang nach den Wurzeln seiner Familie geforscht. Er hatte ihren Stammbaum bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt. 1712 verlor sich die Spur bei einem Landgrafen aus Oberitalien, der nach einem dramatischen Duell am Strand gestorben war.
Spannender als diesen Zweikampf fand Ian jedoch die toten Zweige des Ahnenbaums. All jene Abzweigungen, die ins Nichts führten. Denn davon hatte Ians Familie gleich zwei zu bieten, die ihn unmittelbar berührten. Zum einen der Zweig von Ians Vater Thomas Boroughs, der vor rund fünfzehn Jahren bei einem Autounfall gestorben war, und zum anderen der von Ians Großvater Harvey Douglas Boroughs, der von seinem Segelturn nie zurückgekehrt war.
Hinter Harvey Douglas’ Zweig hatte Ian ein dickes Fragezeichen gemalt. Wahrscheinlich interessierte ihn das Schicksal seines Großvaters so sehr, weil der Tod seines Vaters bewiesen und somit unumstößlich war.
Der Unfall seines Opas hingegen blieb ein Rätsel. Seine Leiche wurde nie gefunden und es gab kein Grab zum Trauern.
Harvey Douglas Boroughs war in England groß geworden und hatte die ganze Welt bereist, bis er sich in den USA niedergelassen hatte.
Seitdem seine Mutter die Uhr in einem Umschlag auf dem Dachboden gefunden hatte, war Ian besessen von der Idee, dass sein Großvater noch leben könnte. Wenn er noch lebte, musste er mittlerweile über achtzig Jahre alt sein.
Oft stellte sich Ian vor, wie Harvey Douglas Boroughs auf seiner Veranda im Schaukelstuhl saß, Eistee schlürfte und über die Geschicke der Welt lachte. Wie er mit schlohweißem Haar in einer großen Villa irgendwo in Italien mit Blick aufs Mittelmeer lebte. Untergetaucht und doch für alle sichtbar, mit braungebranntem Bauch von all den grandiosen Sommern im Süden.
Sicher, auch Ian war bewusst, dass er den Landgrafen aus dem 18. Jahrhundert mit einer Fantasievorstellung vermischte. Doch er glaubte fest daran, dass Harvey Douglas noch am Leben war und seinen Segelunfall damals nur vorgetäuscht hatte. Aus welchen Gründen auch immer.
„Wer weiß, ob er nicht noch lebt“, sagte Ian gedankenverloren und sah zu Bpm, der mit einem Mal aufschrie: „Ich hab einen gefangen!“
Plötzlich herrschte Chaos. Mit lautem Gebell sprang Zero ins Wasser und schnappte nach dem Fisch, der die Chips fressen wollte. Ian beugte sich vor und brachte das Boot fast zum Kentern, als er Bpm half, die Leine mit dem zappelnden Kabeljau aufzurollen.
Lachend gelang es den beiden, ihren Fang einzuholen. Während Ian den Fisch mit einem gezielten Schlag auf den Kopf tötete, blickte Bpm grübelnd zu Zero.
„Ein Hund, der keine Chips frisst, aber Fisch.“ Bpm schüttelte den Kopf. „Ihr
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