Das Licht der Flüsse
erinnert, dass das Leben nicht
unbedingt das sein muss, was wir daraus machen. Sogar eine deutsche Musikkapelle, die man frühmorgens aus der Stadt ziehen
sieht, um zwischen Wäldern und Wiesen in ländlichen Ortschaften ihre Runde zu machen, hinterlässt in der Phantasie einen romantischen
Eindruck. Niemand unter dreißig kann so abgestorben sein, dass sein Herz beim Anblick eines Zigeunerlagers nicht wenigstens
etwas klopft. »Wir sind nicht alle Baumwollfabrikanten« oder zumindest nicht durch und durch. Noch ist die Menschlichkeit
nicht ganz ausgestorben. Die Jugend wird hin und wieder ein tapferes Wortfinden, das den Reichtum schmäht, und eine Anstellung aufgeben, um mit einem Rucksack auf Wanderschaft zu gehen.
Ein Engländer ist im Umgang mit französischen Artisten stets besonders im Vorteil, denn England ist die natürliche Heimat
der Akrobaten. Dieser oder jener Bursche in Trikot und mit Pailletten kann garantiert ein oder zwei Worte Englisch, hat schon
einmal englisches
aff-’n-aff
getrunken und ist vielleicht schon einmal in einem englischen Varieté aufgetreten. Er ist mein Landsmann von Berufs wegen.
Er neigt, so wie die belgischen Rudersportler, zu der Annahme, dass auch ich ein Athlet sein müsse.
Doch der Artist ist nicht mein Favorit: Er hat in seinem Wesen wenig oder nichts von einem Künstler, und meistens ist seine
Seele klein und prosaisch, da sein Beruf sie nicht fordert und ihn nicht an erhabene Vorstellungen gewöhnt. Doch schon wenn
ein Mann als Schauspieler gut genug ist, um durch eine Posse zu stolpern, wird sein Geist frei für eine neue Art von Gedanken.
Er hat außer der Geldkassette noch andere Dinge, über die er nachdenken kann. Er hat Stolz, und was noch viel wichtiger ist,
er hat ein Ziel vor Augen, das er nie ganz erreichen kann. Er ist auf eine Pilgerfahrt gegangen, die sein Leben lang andauern
wird, da sie keinen anderen Ausgang kennt als die Vollkommenheit. Er wird sich jeden Tag ein wenig steigern, und selbst wenn
er dieses Bestreben aufgegeben hat, wird er sich stets daran erinnern, dass er vor langer Zeit einmal diesem erhabenen Ideal
gefolgt ist, dass er sich vor langer Zeit einmal in einen Stern verliebte. »Besser geliebt und verloren als überhaupt nicht
geliebt.« Auch wenn der Mond Endymion nichts zusagen gehabt hätte, auch wenn er sich mit Audrey niedergelassen hätte, um Schweine zu mästen, glauben Sie nicht, er hätte
sich dennoch mit größerer Anmut bewegt und bis zum Schluss höhere Gedanken gehegt? Die Rüpel, die er in der Kirche trifft,
hatten nie einen Traum, der höher als Audreys Haarband reichte, doch in Endymions Herzen gibt es eine Erinnerung, die es wie
ein Gewürz frisch und hochmütig erhält.
Auch bei jenen, die nur die Randgebiete der Kunst streifen, hinterlässt dies einen zarten Stempel im Antlitz. Ich erinnere
mich an ein Abendessen mit einer Gesellschaft in Château-Landon. Die meisten von ihnen waren eindeutig Hausierer, andere waren
wohlhabende Kleinbauern, doch da war auch ein junger Bursche in Hemdsärmeln, dessen Gesicht sich von denen der anderen erstaunlich
abhob. Es wirkte vollkommener, mehr Seele sprach daraus. Es hatte lebhafte, ausdrucksvolle Züge, und man konnte sehen, dass
seine Augen die Dinge aufsogen. Mein Kamerad und ich wunderten uns sehr, wer oder was er sein könnte. Es war Jahrmarkt in
Château-Landon, und als wir an den Buden vorbeigingen, wurde unsere Frage beantwortet: Da war unser Freund und fiedelte eifrig
für die Bauern, die zur Musik ihre Luftsprünge machten. Er war ein umherziehender Violinspieler.
Einmal kam ein Trupp Wanderschauspieler im Département Seine-et-Marne in den Gasthof, in den ich eingekehrt war. Da waren
Vater und Mutter, zwei Töchter, freche, plumpe Gören, die sangen und spielten, ohne zu wissen, wie sie es richtig anstellen
sollten, und ein düsterer junger Mann, einem Hauslehrer ähnlich, ein widerspenstiger Anstreicher,der nicht übel sang und spielte. Die Mutter war das Genie der Truppe, falls man bei solch einer Schar unfähiger Scharlatane
von Genie sprechen kann, während ihr Gatte nicht die richtigen Worte finden konnte, um seine Bewunderung für ihre Rolle des
fidelen Bauern zum Ausdruck zu bringen. »Sie sollten meine Alte mal sehen«, sagte er und nickte mit bierseliger Miene. Eines
Abends traten sie in einem Stall mit flackernden Lampen auf – eine elende Darbietung, die vom dörflichen Publikum ungerührt
verfolgt
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