Das Licht der Phantasie
wir, daß Oktav lesen zu müssen, um eine Katastrophe zu verhindern. Warum ließ der Schöpfer das Buch sonst hier?«
»Vielleicht hat Er es vergessen«, warf der Astrologe ein.
»Die anderen Orden halten überall nach Rincewind Ausschau, von hier bis zur Mitte«, fuhr Trymon fort und zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Sie gehen von der durchaus vernünftigen Annahme aus, daß jemand, der in eine Wolke fliegt, irgendwann wieder zum Vorschein kommen muß…«
»Es sei denn, die Wolke war mit Felsen vollgestopft«, meinte der Professor in einem unglücklichen und – wie sich kurz darauf herausstellte – erfolglosen Versuch, die Stimmung zu verbessern.
»Nun, eins steht fest: Irgendwann muß er wieder herunterkommen. Die Frage lautet nur: wo?«
»Um das herauszufinden, bietet sich uns eine ganz bestimmte Möglichkeit an.«
»Aha«, machte der Professor und lief, um nicht den Anschluß zu verlieren. Trymon marschierte gerade über Die Beiden Dicken Vettern.
»Und worin besteht diese Möglichkeit?«
Der Astrologe sah in zwei graue Augen, die so mild und sanft blickten wie die eines hungrigen Wolfs.
»Äh, wir warten einfach ab?« entgegnete er vorsichtig, auf alles gefaßt.
»Keineswegs! Wir nutzen die Gaben, die uns der Schöpfer überließ, machen von unserem Verstand Gebrauch und sehen zu Boden. Und was erkennen wir dort?«
Der Professor stöhnte innerlich und senkte den Kopf.
»Fliesen?« vermutete er.
»Ja, Fliesen. Und sie bilden was?« Trymon musterte ihn erwartungsvoll. Der Astrologe schluckte der Verzweiflung nahe. »Den Tierkreis?«
»Stimmt! Wir brauchen also nur das genaue Horoskop Rincewinds zu erstellen, um seinen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen!« Der Astrologe grinste wie jemand, der gerade auf Treibsand getanzt hatte und nun festes Gestein unter den Füßen spürte.
»Dazu muß ich wissen, wo und wann er geboren wurde«, sagte er. »Kein Problem. Ich habe in den Universitätsakten nachgesehen, bevor ich hierher kam.«
Der Professor blätterte in den Unterlagen und runzelte die Stirn. Er durchquerte den Raum, öffnete eine Schublade und holte astrologische Karten hervor. Noch einmal las er die Angaben. Er nahm zwei kompliziert wirkende Kompasse zur Hand, legte sie auf die Karten und rückte sie hin und her. Er griff nach einem kleinen Messingastroskop und drehte es behutsam. Er pfiff leise durch die Zähne. Er holte ein Stück Kreide aus der Tasche und kritzelte einige Zahlen auf die Tafel.
Unterdessen trat Trymon erneut ans Fenster und betrachtete das rote Glühen am Horizont. Die Legende der Pyramide von Tsort ist deutlich genug, dachte er. Wer die Acht Zauberformeln ausspricht, während der Scheibenwelt Gefahr droht, erhält alles, was er sich wünscht. Und es dauert nicht mehr lange!
Und er überlegte: Ich kenne Rincewind. War er nicht der Trottel, der in unserer Novizenklasse die mit Abstand schlechtesten Noten bekam? Hat nicht einen magischen Knochen im Leib. Wenn ich ihn erwische, fällt es mir bestimmt nicht schwer, alle acht Zaubersprüche zusammenzubringen…
Der Astrologe gab ein keuchendes »Lieber Himmel!« von sich, und Trymon drehte sich ruckartig um.
»Nun?«
»Ein faszinierendes Diagramm«, bemerkte der Professor atemlos. Tiefe Furchen bildeten sich in seiner Stirn. »Äußerst seltsam, um ganz genau zu sein.«
»Wie seltsam?«
»Rincewind wurde im Zeichen Der Kleinen Langweiligen Gruppe Blasser Sterne geboren, das, wie du sicher weißt, zwischen der Fliegenden Maus und der Verknoteten Kordel liegt. Es heißt, nicht einmal die Ahnen fanden irgendeine Art von Interesse an jener Konstellation, die…«
»Komm endlich zur Sache«, unterbrach ihn Trymon ungeduldig.
»Nun, für gewöhnlich steht das Zeichen in Verbindung mit Schachbrett-Tischlern, Zwiebelverkäufern, Herstellern von Gipsbildern, die eine nur geringe religiöse Bedeutung haben, und Leuten, die kein Zinn ausstehen. Es ist überhaupt kein Magier-Zeichen. Hinzu kommt, daß zum Zeitpunkt von Rincewinds Geburt der Schatten von Cori Celesti…«
»Die astrologischen Einzelheiten kannst du dir sparen«, knurrte Trymon. »Nenn mir endlich das Horoskop.«
Der Professor war recht stolz auf seine Berechnungen, seufzte enttäuscht und rückte die beiden Kompasse zurecht.
»Nun gut«, sagte er. »Es lautet folgendermaßen: ›Heute hast du Gelegenheit, neue Freunde zu gewinnen. Eine gute Tat mag überraschende Konsequenzen nach sich ziehen. Hüte dich davor, Druiden zu verärgern. Du wirst bald
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