Das Licht der Phantasie
Mistelzweige baumelten an ihren langen Sicheln. Dutzende von jüngeren Priestern und Novizen folgten ihnen und hämmerten dabei auf diverse Schlaginstrumente ein. Vermutlich dienten sie normalerweise dazu, böse Geister zu verjagen – und Rincewind zweifelte nicht daran, daß sie ihren Zweck erfüllten.
Fackelschein projizierte aufregend dramatische Schattenmuster auf die hohen Steine, die bedrohlicher als jemals zuvor wirkten. Über der Mitte der Scheibenwelt schimmerte die Aurora Coriolis und verblaßte zwischen den Sternen, als eine Million Eiskristalle im magischen Feld der Scheibe glitzerten.
»Belafon hat mir alles erklärt«, flüsterte Zweiblum. »Wir erleben jetzt eine Zeremonie, die so alt ist wie die Zeit selbst und dazu dient, die Einheit des Menschen mit dem Universum zu ehren – so lautete jedenfalls seine Auskunft.«
Rincewind schnitt eine Grimasse, als er die Prozession beobachtete. Die Druiden verharrten neben einem großen, flachen Felsen im Zentrum des Kreises, und dem Zauberer fiel eine sehr hübsche, wenn auch ein wenig blasse junge Frau in ihrer Mitte auf. Sie trug eine lange Robe aus strahlendem Weiß und eine goldene Halskette. Ihre Züge offenbarten vage Besorgnis.
»Ist sie eine Druidin?« fragte Zweiblum.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Rincewind gedehnt.
Die Druiden begannen zu singen. Es handelte sich um einen besonders dumpfen und unangenehm klingenden Gesang, der ganz den Eindruck erweckte, als wolle er in einem abrupten Crescendo enden. Der Anblick der jungen Frau, die nun auf dem großen Felsen lag, war nicht dazu angetan, Rincewind fröhlicher zu stimmen.
»Das möchte ich mir ansehen«, sagte Zweiblum. »Ich glaube, derartige Rituale gehen auf die primitive Vorzeit zurück, während der…«
»Ja, ja«, stöhnte Rincewind. »Falls es dich interessiert: Die Frau dort soll geopfert werden.«
Der Tourist starrte ihn verblüfft an.
»Du meinst, die Druiden wollen sie töten?«
»Ja.«
»Warum?«
»Keine Ahnung. Damit das Korn auf den Feldern wächst oder der Mond aufgeht. Was weiß ich. Vielleicht finden sie auch einfach nur Gefallen daran, irgendwelche Leute umzubringen. Soviel zur Religion.«
Kurze Zeit später bemerkte er ein brummendes Summen, nicht unbedingt ein Geräusch, sondern eher eine Vibration. Sie schien von einem nahen Stein auszugehen. Kleine Lichter tanzten wie Kobolde über den Granit.
Zweiblum öffnete den Mund, überlegte es sich dann anders und preßte die Lippen zusammen.
»Können sie keine Blumen, Beeren oder etwas in der Art verwenden?« fragte er schließlich. »Symbole für eine Opferung?«
»Nein.«
Rincewind ächzte. »Jetzt hör mir mal gut zu«, murmelte er. »Kein Hohepriester, der etwas auf sich hält, macht sich all die Mühe mit den Fahnen, Trompeten und der Prozession, um sein Messer dann in eine Narzisse und zwei Pflaumen zu stoßen. Begreif das doch endlich: Der ganze Kram mit goldenen Zweigen, dem Wechsel der Jahreszeiten und so weiter läuft immer wieder auf Sex und Gewalt hinaus, meistens zu gleichen Teilen.«
Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß Zweiblums Lippen zitterten. Er betrachtete die Welt nicht etwa durch eine rosarote Brille, sondern durch ein rosarotes Hirn – und hörte mit rosaroten Ohren.
Rincewind hatte sich nicht geirrt: Das Lied steuerte unaufhaltsam einem schrillen Höhepunkt zu. Das Oberhaupt der Druiden prüfte die Schärfe der Sichel, und alle Blicke galten einer Felsnadel auf dem schneebedeckten Hügel hinter dem Steinkreis. Publikum und Protagonisten warteten auf den Gastauftritt des Mondes.
»Es hat keinen Zweck, daß du…«
Rincewind brach ab, als er merkte, daß Zweiblum gar nicht mehr neben ihm stand.
D ie öde Landschaft außerhalb des Steinkreises war keineswegs so leblos, wie man meinen konnte. Zum Beispiel näherten sich gerade einige von Trymon alarmierte Zauberer.
Des weiteren verbarg die Dunkelheit eine kleine und einsame Gestalt, die hinter einem umgestürzten Felsen hockte. Der größte Held der Scheibenwelt beobachtete das Geschehen im Steinkreis mit erheblichem Interesse.
Er sah die Prozession der Druiden, hörte ihren Gesang, kniff die Augen zusammen, als das Oberhaupt seine Sichel hob…
Und vernahm plötzlich eine andere Stimme, die sich an den Hohepriester wandte.
»Entschuldige bitte, wenn ich dich unterbreche. Ich möchte dich auf etwas aufmerksam machen, wenn du gestattest.«
R incewind sah sich verzweifelt um und hielt vergeblich nach einem
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