Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
diesmal floss zumindest kein Blut, und wollte wieder zurückgehen, als ihr auffiel, dass die Wohnungstür nicht verschlossen war, sondern nur angelehnt. Auch die Tür zu Becks Schlafzimmer stand offen, sein Bett war verlassen. Sie tappte mit bloßen Füßen und ihrem Nachthemd, in dem sie, sobald sie im eiskalten Treppenhaus war, erbärmlich fror, nach draußen. Zuerst war da nichts als Stille, selbst von draußen war nichts zu hören, die Straßen hier waren sowohl tags als auch nachts über wie tot. Umso mehr bekam sie mit, jedes Knistern, jedes Knirschen, ein fernes Brummen, das direkt aus dem Leib der Erde aufzusteigen schien.
Geh zurück, dachte sie, was soll das?
Wo war Beck?
Sie drückte auf den Lichtzeitschalter im Treppenhaus, und es wurde für die nächsten zwei Minuten hell. Sie blickte nach oben in die zweite Etage. Sie glaubte Stimmen von dort zu hören. Beck hatte ihnen versichert, dass sie hier unter sich waren und die restlichen Wohnungen leer standen. Alleine das war ihr schon unheimlich, der Gedanke an all diese leeren Zimmer in der Dunkelheit.
Und trotzdem hörte sie Stimmen. Aus der Wohnung über ihnen. Sie trat auf die erste Stufe. Horchte angestrengt. Hörte Becks Stimme seltsam hohl und mechanisch durch die Wand kratzen. Dazu die Stimme einer älteren Frau. Polly verstand nicht, was die beiden beredeten. Es war unwirklich, mit vielen Pausen, sie kam sich vor wie in einer Art Traumfuge. Aber sie träumte nicht. Sie setzte einen weiteren Schritt nach oben. Die Stufe knarzte unter ihrem Gewicht, dabei wog sie doch fast nichts. Jeder ihrer Schritte schien widerzuhallen. Ihre Hand klammerte sich am Treppengeländer fest. Ihr Herz raste, und ein stechender Schmerz bohrte sich durch ihre linke Schläfe wie der abgefeuerte Nahschuss eines Henkers. Sie hatte das Gefühl, sich auf eine Gefahr zuzubewegen. Auf etwas Entsetzliches, das da oben auf sie wartete. Etwas Beklemmendes krallte sich an ihrer Brust fest. Dann hörte sie einen gellenden Schrei. Es war die Stimme der älteren Frau. Sie schrie erneut. Im selben Moment ging das Licht wieder aus, die plötzliche Dunkelheit, die sich wie ein Sack über sie stülpte, ließ sie hilflos erstarren.
Die Stimmen verstummten, und sie hörte, wie sich in der Wohnung über ihr jemand bewegte.
Beck? War das Beck?
Und wer war da noch oben?
Eine Tür öffnete sich.
Polly bewegte sich so rasch und lautlos, dass sie glaubte, jemand anderer, der an ihre Stelle getreten war, täte es für sie und sie selbst hätte mit den hektischen Bewegungen ihres flüchtenden Körpers nichts zu tun. Wahrscheinlich war es ein Instinkt, ein unerklärlicher Gefahrenmoment, der die Kontrolle übernahm und sie wieder in der Wohnung verschwinden ließ. Kaum drinnen lehnte sie die Tür an und hörte, wie Beck die Stufen hinunterschlich. Sie kletterte zurück in ihren Schlafsack und schloss die Augen, vergaß beinahe zu atmen, als ein Schatten sich über sie beugte.
Öffne nicht die Augen, sagte sie sich, öffne NICHT die Augen,und sie roch einen penetranten Kotgeruch, der sie fast würgen ließ, und, DU MUSST ATMEN, so natürlich wie möglich, als würdest du schlafen, weil er sonst merkt, dass etwas nicht stimmt. Also ließ sie die Luft aus sich heraus und atmete diesen widerlichen Gestank ein, und hinter ihren geschlossenen Lidern spürte sie ein böse lauerndes Augenpaar, das sie anstarrte und darauf wartete, dass sie sich verriet. Doch gerade als sie sich sicher war, es nicht mehr länger auszuhalten und aufzuspringen und zu schreien, zog sich die über ihr schwebende Präsenz zurück und verließ den Raum.
Polly wagte es, ihre Augen einen kleinen Spalt weit zu öffnen.
Schwärze um sie herum. Sie hörte, wie im Badezimmer die Dusche lief. Sie tastete nach Mevissen, flüsterte seinen Namen, aber er reagierte nicht, er war weit weg, war gefangen in einem bleiernen, pechschwarzen Traum.
Mevissen träumte von Verrat, brennenden Wohnungen, abgeschlachteten Frauen. Beck war in seinem Unterbewusstsein und hatte sich wie eine bösartige Erkrankung in ihm eingenistet. Übernahm die Kontrolle.
Mevissen hatte nichts, was er ihm entgegensetzen konnte. Die Geschichte seiner Sucht, angefangen mit dem Kodein über die Schmerztabletten und Schlafmittel, hatte ihn ausgezehrt und zu einem müden, vorzeitig gealterten, mutlosen Mann werden lassen, der sich selbst verachtete und sein gezeichnetes Gesicht im Spiegel hasste. Sein Selbstbewusstsein hatte sich wie eine enttäuschte Geliebte von
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