Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
bestattet, aus der Welt getilgt. Ihre Freunde würden sie als vermisst melden, als verschollen, verloren, man würde nach ihnen suchen, ein paar Tage lang, ein paar Wochen ihre Gesichter sowohl auf den Straßen wie auch virtuell im Internet plakatieren; umsonst.
Robert hätte ihnen erzählen können, was geschehen war.
Nein, nicht er.
Und auch keiner der anderen hier.
»Du fragst dich, warum diese Typen sich dafür hergeben«, sagte Nagy, als er in Robert las; wie immer kroch er ihm dabei unter die Haut, und es war, als legte er seine Hände auf Roberts Kopf, Hände, die auch über der Stadt lagen, über dieser und über jeder anderen, in denen er Ableger seiner kriminellen Aktivitäten unterhielt. Hände, die über das Leben und Sterben von Menschen bestimmten, Hände, in die sich Robert vor langer Zeit hinein begeben hatte wie in eine Falle und aus deren Griff er nicht mehr herauskam.
»Ja, das frage ich mich wirklich.«
»Wie schmeckt Armut? Nach nichts, Robert. Armut ist der graue Belag auf deiner Zunge, das drückende, krampfende Gefühl in deinem leeren Magen, die Hungerleere in deinem Kopf. Armut ist ein sich ewig wiederholender Tag, den du damit verbringst, dem Grau deines Lebens eine weitere Schattierung abzugewinnen. Was das falsche Wort wäre … gewinnen. Armut macht die Leute mürbe, Armut treibt sie an die wildesten Ufer.Armut tötet. Sie bringt die Menschen dazu, alles Menschliche abzulegen, sie entkernt dich, sie verwandelt. Es fasziniert mich, dabei zuzusehen, wie wir alles vergessen, was man uns beibrachte, um in ein Stadium zurückzukehren, von dem wir glaubten, es hinter uns gelassen zu haben. Keiner von denen hier wurde als Mörder geboren. Aber sie haben heute gemordet. Nicht gekämpft, gemordet.«
Robert bemerkte, wie die beiden vermeintlichen Sieger das Lagerhaus verließen und von Nagys Männern auf den Rücksitz eines alten Fords bugsiert wurden. Die Männer sahen scheußlich aus, völlig leer und zutiefst deprimiert. Die Geldbündel in ihren Händen zitterten. Sie warfen keinen Blick darauf.
»Was hält sie davon ab, irgendwann zur Polizei zu gehen?«, fragte Robert.
»Nichts. Aber sie werden es nicht tun. Wir wissen alles über sie und ihre Angehörigen. London ist eine große Stadt, aber selbst die Welt wäre nicht groß genug …«
Ja, Robert verstand.
Nagy bleckte die Zähne, zufrieden mit seinen Ausführungen, seiner grimmigen, wölfischen Philosophie.
Es waren zwei Dinge, die an Nagy auffielen.
Erstens seine Augen. Sein klarer, offener und wacher Blick, der sich von dem der Leute, die für ihn arbeiteten und mit denen er geschäftlich zu tun hatte, unterschied. All diese Basiliskenaugen ordneten sich dem kleinen schmächtigen Mann unter. Und die, die meinten, es nicht nötig zu haben, änderten früher oder später ihre Meinung.
Nagys Blick war intensiv, fokussiert, interessiert, da war eine Nickhaut aus Zuvorkommenheit und Vertrauen, hinter der sich ein Reptil verbarg.
Dann die Zähne. Implantate, gebleicht, strahlend weiß, klein und scharf. Zähne, die dafür gemacht waren, zu zerstören und zu vertilgen.
Es gab da Geschichten. Es gibt immer Geschichten um Leutewie Nagy, die nach dem Ende des Kommunismus wie neugeborene Albträume in den Westen übersetzten. Neue Spielregeln aufstellten, ihr Brandzeichen hinterließen. Stoff für urbane, hartgesottene Mythen. Sich widersprechende Wahrheiten.
Ungeheuerliches: Nagy, der aus einem russischen Waisenhaus stammte, von dort nach Misshandlungen und sexuellen Übergriffen floh, auf der Straße lebte wie eine ganze Generation verlorener Kinder vor und nach ihm. Der Anführer einer Jugendbande wurde. Nagy, der am Ufer der Moskwa einmal einem Milizionär, der ihn vergewaltigen wollte, die Kehle durchbiss mit den alten, kaputten Zähnen seiner Kindheit, der sich später als Auftragskiller die goldene Leiter des freien Unternehmertums hocharbeitete, eine Organisation infiltrierte, die alten Männer aus dem Weg räumte, natürlich eigenhändig, wie es sich gehört.
Nagy, der Fürst der Finsternis.
Sein nackter Oberkörper war angeblich nach Art der russischen vodry , der Mafiosi, ein Gemälde eintätowierten Schreckens, eine über die Haut gespannte Leinwand aus Blut und Terror.
So sagten die einen.
Die anderen erzählten, dass Nagy gar kein Russe war, sondern einem alten ungarischen Adelsgeschlecht entstammte, sein Vater eng mit Admiral Horthy befreundet war und ein Onkel als Regimentskommandeur an der Seite der deutschen
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