Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Logistik verantwortlich, sondern auch da, um Robert zu überwachen. Man wusste ja nie, oder? Menschen waren unberechenbar. Was sie letztendlich taten, hatte manchmal nichts mit dem zu tun, was sie eigentlich wollten. Hatte Nagy in Roberts Augen vielleicht etwas gesehen, was diesem selbst noch nicht wirklich bewusst war?
Vor mir sitzt ein ausgebrannter Mann. Vor mir sitzt ein großer, starker Kerl, der in Wirklichkeit innerlich verfault. Die Art von Mann, die eines Morgens aufwacht und aus dem Fenster springt. Die Art von Kerl, die man von der Straße kratzt und verscharrt, weil es niemanden gibt, der um ihn weint.
Nein, dachte Robert. Einer würde um ihn weinen. Und wenn er starb, dann wollte er bei einem Menschen sterben, den er liebte.
KAPITEL
ZWÖLF
Auf dem Weg zum Rechtsmedizinischen Institut der Charité in Moabit, unter einem Himmel, der ihn an zerstoßenes Eis erinnerte, drängten sich die Toten an seine Seite. Kleber fuhr, und Abraham hatte genug Ruhe, um sie an sich heranzulassen.
Die Erinnerung an seinen ersten Toten zum Beispiel.
Abraham war bei ihm, als er starb. Ein älterer Mann, der mit seinem Fahrrad auf einer Landstraße unterwegs war, als ihn bei einsetzender Dämmerung und Regen ein mit überhöhter Geschwindigkeit rasendes Auto erfasste und durch die Luft schleuderte. Der Fahrer, Teil einer Gruppe betrunkener Jugendlicher, fuhr einfach davon. Es dauerte Minuten, bis ein anderer hielt und Hilfe holte. Handys gehörten noch nicht zur Grundausstattung, und die Zeit war wie immer unerbittlich. An diesem Tag hatte es gleich mehrere schwere Unfälle gegeben, und die Rettungskräfte mussten abwägen und Entscheidungen treffen. Da die Familie, eingeklemmt im Wrack ihres Wagens, dort ein brennendes Gebäude mit dutzenden Verletzten. So kam es, dass der Streifenpolizist Abraham noch vor dem Notarzt an Ort und Stelle war. Über Funk hatte man ihnen mitgeteilt, dass es dauern würde und dass sie dem Schwerverletzten so gut wie möglichhelfen sollten. Aber helfen oder gar retten konnten sie ihn nicht – das sah Abraham schon in dem Moment, als er sich neben dem zerbrochenen, verdrehten Körper in den nassen Boden kniete. Während sein Partner die Straße absperrte, zog Abraham seine Jacke aus und legte sie unter den Kopf des Sterbenden. Aus dessen Ohren rann Blut und vermischte sich mit der aufgewühlten, feuchten Erde.
Abraham sagte: »Halten Sie durch, Hilfe ist unterwegs, alles wird in Ordnung kommen.«
Nun, nichts davon würde geschehen, und sie wussten es beide.
Der Mann versuchte zu sprechen. Letzte Worte, auch das war ihnen beiden klar. Abraham legte sein Ohr auf den zerschlagenen Mund des Mannes und lauschte.
Was er jedoch zuerst hörte, war die Stimme seines Partners, eines abgestumpften Routiniers, der rief: »Was willst du denn noch – der Kerl ist bereits hinüber.«
»Halt’s Maul«, schrie Abraham zurück, dabei wandte er seinen Blick keine Sekunde von dem Sterbenden ab. Durch das Blut, das sich in seiner Kehle sammelte, durch die zersplitterten Zähne hindurch, bat ihn der Mann, aus seiner Brieftasche ein Foto zu holen. Es steckte zwischen der Bankkarte und dem Ausweis einer Bücherei. Das Bild einer jungen, lachenden Frau, aufgenommen in den frühen 60ern, in einem anderen Land unter einem blauen Himmel und vor den antiken Überresten einer vergangenen Zivilisation. Die Finger des Sterbenden schlossen sich um das Bild.
»Ihre Frau?«, fragte Abraham. Er fühlte sich schrecklich hilflos. Auf dem zerschmetterten Gesicht des Mannes zeichnete sich die entsetzliche Parodie eines Lächelns ab. »Beinahe«, sagte der Sterbende. Und erst sehr viel später, als er den Angehörigen die Todesnachricht überbrachte und mehr über das Leben des Toten erfuhr, begriff Abraham, dass der Sterbende die Fotografie eines möglichen Glücks aus einem anderen Lebenals das, das er führte, immer bei sich getragen hatte. Als hätte er das verpasste Glück nicht loslassen wollen. Abraham dachte: Solange er das Bild festhält, stirbt er nicht. Er wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, aber er war plötzlich einfach da. Der Regen wurde stärker und trennte sie beide vom Rest der Welt, die hinter einem silbrigen Vorhang verschwand, den die einfallende Nacht mit jeder weiteren Minute in Dunkelheit tauchte. Einer von ihnen würde in dieser Dunkelheit zurückbleiben.
»Wo bleibt der beschissene Notarzt?«, brüllte Abraham in die regnerische Nacht hinein, und er brüllte auch die desinteressierte, reglose
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