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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cyrus Darbandi
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Gestalt seines Kollegen an. Der zuckte mit den Schultern. Was das bedeutete, war klar: Das hier wird dir nicht nur einmal geschehen, Kumpel.
    »Bitte«, flüsterte Abraham und weinte. Der Regen wusch die Tränen aus seinem Gesicht. Aber der Griff des Sterbenden um das nicht gelebte Glück seines Lebens wurde schwächer. Regentropfen fielen auf die Fotografie, als sich seine Hand öffnete. Da nahm Abraham die Hand des Mannes in seine und schloss sie wieder und hielt sie fest, und es war ihm, als läge das Leben des anderen buchstäblich in seiner eigenen Hand. So blieben sie und warteten und irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, schnitten Scheinwerfer durch die Nacht und Männer stiegen aus einem Rettungswagen, aber bis dahin hatte sich das Leben schon davongeschlichen. Zurück blieb nur die leere Hülle eines Menschen, denn alles, was ihn ausgemacht hatte, war bereits jenseits der Nacht verschwunden. Abraham blieb nichts anderes übrig, als das aufgeweichte Foto zu retten und dem Verstorbenen die Augen zu schließen.
    Im Leben der Hinterbliebenen besaß die Fotografie keine Bedeutung. »Ja, da war mal was«, erzählte die Ehefrau, sie hatte so gar nichts von der Frau auf dem Foto an sich, vielmehr strahlte sie eine unangenehme Härte aus, »aber das war vor meiner Zeit, und wieso sollte es mich gerade jetzt interessieren, wo es mirdoch schon all die Jahre gleichgültig war. Schließlich trägt jeder seine alten Geschichten mit sich rum.«
    »Dieses Foto schien ihm nur sehr wichtig zu sein«, sagte Abraham.
    »Ja«, sagte sie, »Sie sagen es: ihm war es wichtig.«
    Die beiden Toten des Morgens waren unterdessen in den Sektionssaal der Rechtsmedizin der Charité gebracht worden. Die Rechtsmedizin wurde von Dr. Benjamin Levy geleitet, einem kleinen, drahtigen Israeli, dessen olivfarbene Haut sich so gar nicht mit dem Berliner Winter vertrug. Er stammte aus Tel Aviv und war durch die Liebe zu einer deutschen Jüdin, die er dort am Strand kennengelernt hatte, nach Berlin gespült worden. Das war jetzt fast zehn Jahre her, und er vermisste den Sommer in seiner Heimat, der mit nichts anderem zu vergleichen war, immer noch. Was er nicht vermisste, waren seine Einsätze als Notarzt, die ständigen Selbstmordattentate, zerfetzte, verstümmelte Körper, Sirenengeheul, das einen bis in die tiefsten Schichten des Schlafes verfolgt; die Schockwellen des Krieges, die ihre zerbrechlichen Körper erzitterrn ließ. Berlin hatte das alles hinter sich – und diejenigen, die sich daran erinnerten, wurden mit jedem Jahr weniger. Ausgerechnet in der Stadt, dem Land, in dem so viele seiner Verwandten umgekommen waren, hatte Levy seine eigene Art von Frieden gefunden. Levy und Abraham teilten denselben Glauben, und das in vielerlei Hinsicht – vor allem fühlten sie sich den Unschuldigen verbunden. Abraham mochte nicht allzu viele Freunde haben, aber es gab Verbündete, und Levy war einer von ihnen.
    In Margot Beenhakkers Wohnung hatten sie bereits einen Set von Fingerabdrücken sicherstellen können – und sie stammten alle von Phelps. Noch bedeutsamer war, dass sie sich auch an Beenhakkers Leiche befanden. An ihrem Hals ebenso wie an ihrem zerquetschten Kehlkopf.
    Sollte dieser Fall tatsächlich so einfach laufen, überlegte Abraham. Gab es hier keinen dunklen, schlammigen Grund, der nur darauf wartete, aufgewühlt zu werden, um einen tieferen Schrecken zu finden? Seine Kollegen hatten bislang an den richtigen Stellen gesucht, die richtigen Fragen gestellt; genau nach Vorschrift. All dies war allerdings bedeutungslos ohne Instinkt, Erfahrung und Intuition. Gottwald und Kossack würden dies noch lernen müssen, harte Lektionen in Misstrauen und dem schmalen Grat zwischen Lügen und Nicht-die-Wahrheit-sagen; kleinste Nuancen, ein falscher Blick, eine aufschlussreiche Geste. Abraham und Kleber hatten diese strenge Schule aus Scheitern und Neu-Beginnen hinter sich und trugen ihre Narben mehr oder weniger sichtbar in der Art, wie sie ihren Mördern begegneten; von denen benötigte ein jeder seine eigene Ansprache.
    Abraham wusste, dass die meisten Morde Beziehungstaten waren, ja, in ihrer schlichten, tristen Grausamkeit, in ihrer Sinnlosigkeit waren sie simpel – kein ausgeklügelter Masterplan steckte hinter einem Streit, der jahrelang schwelte wie ein versteckter Brand und dann irgendwann, bei einem falschen Wort, einer missverstandenen Geste ausbrach. Immer wieder hatte er Mördern gelauscht, die ihm erzählten, dass sie während

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