Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
dicke Mäntel, große Schals, die zwecks Nahrungsaufnahme offen um ihren Hals hingen, und bunte, derbe Strickmützen. Zwischen den Wortkaskaden fielen sie immer wieder in ein lautes staunendes Lachen: Eine neue Welt galt es da draußen zu entdecken, und ein neues Leben inklusive.
Arschawin hatte Roberts Blick abgepasst und ihn aufgenommen.
»Die Mitte der Welt, hier und jetzt; Berlin: das neue Kraftzentrum.Generell, Deutschland.« Er deutete auf die beiden Frauen. »Deren Leute haben mal die Welt beherrscht. Und heute wandern ihre Kinder aus, weil sie zu Hause keine Arbeit mehr finden. Jetzt gehen sie denselben Weg wie ihre Eltern in den 50er, 60er Jahren, immer nach Norden. Was das bedeutet? Neue Migrationsströme. Oder nein … eher die gleichen wie zu allen Zeiten.«
»Ist angekommen«, sagte Robert.
Arschawin sagte: »Ich weiß, dass du hier die Sache schaukelst, ist mir schon klar. Natürlich hätte ich diesen Auftrag genauso erledigen können – bei der ganzen Vorarbeit, die ich schon reingesteckt habe. Ehrlich gesagt, es leuchtet mir nicht so ganz ein, warum Nagy extra jemanden wie dich schickt …«
»Wie mich?«
»Deines Kalibers. Na ja, du bist doch sonst eher auf … äh, anderes spezialisiert. Transporte, Abwicklungen.
Ein Kurier.«
Robert war schon klar, was los war. Da war jemand beleidigt, weil er übergangen wurde. Die gekränkte Eitelkeit eines Mitarbeiters – wo war da der Unterschied zu einem normalen Berufsleben? Nun, am Ende wird jemand sterben, sagte sich Robert. Und du wirst maßgeblich daran beteiligt sein.
Das ist der Unterschied.
»Der Auftrag ist spezieller Natur und wichtig«, sagte Robert. Arschawin lehnte sich zurück und verzog keine Miene.
»Schon klar. Das sagen sie immer.«
»Können wir uns jetzt auf die Arbeit konzentrieren?«
Arschawins Augen blitzten kurz verärgert auf und er sagte etwas auf Russisch. Das veranlasste eine der Spanierinnen, zu ihnen herüberzusehen. Nicht, dass sie ein Wort verstanden hätte – ebenso wie Robert, der davon ausging, dass Arschawin seinem Missmut Luft gemacht hatte. Sie lächelte ihnen zu, prallte damit aber sowohl an Arschawin als auch an Robert ab. Verlegen wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu.
»Das wird nicht das letzte Wort Russisch sein, das du hörst, Mädchen«, murmelte Arschawin. »Hier leben zweihunderttausend von uns. Charlottenburg wurde von uns schon vor Jahren in Charlottengrad umgetauft.«
»Die Frau«, sagte Robert, zunehmend ungeduldiger.
Er meinte Mikoschs Tochter.
Arschawin holte eine kleine Digitalkamera aus seiner Tasche.
»Du willst schnell zur Sache kommen, was? Ja, warum nicht? Die Bilder sind in den letzten Tagen entstanden.«
Damit meinte er wohl seine Vorarbeit. Er reichte Robert die Kamera. Robert klickte sich durch eine Reihe von Aufnahmen, die auf dem Display erschienen.
»Sie heißt übrigens Leifheit. Das ist der Name ihrer Mutter.«
Selina Leifheit.
Die ersten Aufnahmen zeigten sie auf einer Vernissage. Eine Menge moderne Kunst, die ihm nichts sagte, ein Haufen Künstler, Bohemiens, Hipster und Digital Natives, die sich um sie herum wie ein Ameisenhaufen in einer Ordnung, die nur sie selbst verstanden, organisiert hatten. Alle waren stolz auf ihre Individualität und trugen doch dasselbe – die Uniform der Eingeborenen: T-Shirts mit V-Ausschnitt, dazu drei Schals, kunstvoll drapiert, Vollbart bei den Männern, Labbermützen, Skinnyjeans, hohe Turnschuhe.
Bei ihrem Anblick kam sich Robert noch älter vor, als er sich bereits fühlte.
Was Selina anging: Sie war Mitte zwanzig, groß gewachsen, ihre schwarzen Haare ein wenig einfallslos zu einem einfachen Zopf zusammengebunden, lange Beine, aber eindeutig zu dünn für ihre Größe. Entweder war sie ein schlechter Nahrungsverwerter, oder sie passte sich irgendwelchen Trends an, oder sie litt an einem Kummer.
Das Letzte wohl eher, dachte er.
»Sie sieht traurig aus«, sagte Robert, weil es das war, was amoffensichtlichsten an ihr erschien. Und weil er ein Auge für Einsamkeit hatte. Da war eine Einsamkeit um sie herum, die auf verschlungenen Wegen mit seiner eigenen korrespondierte. Beinahe sofort fühlte er sich zu ihr hingezogen. Etwas in ihm, eine Sehnsucht, die unter den Geröllmassen seiner Persönlichkeit vergraben war, bahnte sich einen Weg ans Freie. Selina war auf eine unauffällige natürliche Weise schön, und wenn es ihr gutging, konnte sie einen besonderen Glanz verströmen, auch das war offensichtlich, aber nicht in diesen
Weitere Kostenlose Bücher