Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
unternommen.«
»Früher war gestern, Ben. Gestern ist vorbei.«
»Scheiße, hör dich doch mal an. Du läufst auf Reserve, mein Freund. Und das schon viel zu lange.«
»Ich weiß.«
Wieder schwiegen sie.
Kleber kam zurück.
»Carla steht draußen vor dem Institut mit der Schwester von Phelps.«
Abraham war überrascht. »Aus Australien etwa?«
»Nein, aus Berlin-Charlottenburg. Sie ist hier, um ihren Bruder zu identifizieren. Stefan Phelps.«
Kleber gönnte ihnen und sich eine dramatische Pause, bevor er den Hammer rausholte. »Und ihre Mutter gleich mit. Margot Beenhakker, unser Mordopfer.«
»Tja«, sagte Levy, »Ende der Zigarettenpause.«
KAPITEL
VIERZEHN
Lydia Beenhakker, geschiedene Kaminski, sie hatte wieder den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen, war Mitte vierzig, und als Abraham sah, wie sie den Raum betrat, dachte er, siebestünde aus rostigem Eisen, aus Stacheldraht, der sich über Jahre in die Rinde eines Baumes eingegraben hat. Diese Frau war taff bis zur Selbstverleugnung, ihr langer Regenmantel hing lose an ihrem schlanken Körper herunter, ihr dunkles Haar war vom Regen nass und lag matt auf ihren schmalen Schultern. Ihr Gesicht bestand aus Ecken und Kanten, die ein gutes, schönes Leben vielleicht, nein, bestimmt, glatt geschmirgelt hätte. Doch anscheinend war sie dieser Art von Leben nie begegnet.
Abraham nickte Gottwald zu.
Diese sagte zu Lydia Beenhakker: »Wenn Sie so weit sind …«
Lydia sagte: »Ich war mein ganzes Leben lang so weit.«
(Weshalb erwähnt sie das?, überlegte Abraham. Da lag etwas in ihrer Stimme, ein metallischer Nachgeschmack, ein fernes, verbranntes Echo. Ein alter Schmerz. Eine schwärende Wunde.)
Levy hob das grüne Laken an und zeigte ihr das Gesicht ihres Bruders. Lydia blickte lange in dieses Gesicht, so als würden Erinnerungen sie bestürmen und als müsste sie der Wucht dahinter standhalten. Dann beugte sie sich runter und küsste die kalte Stirn ihres Bruders. Alle im Raum sahen für einen Moment in eine andere Richtung.
»Wir können Sie auch einen Augenblick alleine mit ihm lassen, wenn Sie möchten«, sagte Levy.
Lydia schüttelte den Kopf.
»Können Sie bestätigen, dass es sich bei dem Toten um Ihren Bruder Stefan Phelps handelt?«, fragte Kleber.
»Ja, das ist er«, sagte Lydia gefasst.
Sie hielt sich gut, dachte Abraham. Er hatte schon weitaus Schlimmeres gesehen. Herzzerreißendes; Väter, die ihre Töchter identifizierten, Töchter ihre Mütter. Menschen, die mit einem brutalen Mal etwas Grundlegendes begriffen: Ihre Liebsten waren tot, weg, fort, einfach so.
Der Kuss überraschte ihn nicht. Das hatte er auch schon gesehen.Der Unmittelbarkeit des Todes wurde ebenso unmittelbar begegnet. Solange die Körper noch warm waren. Oder man sich zumindest dieser Illusion hingab.
»Wenn Sie etwas brauchen …«, begann Abraham. Lydia blickte ihn an und er wurde aufs Tiefste getroffen, ohne zu wissen warum. Er glaubte auch in ihr etwas Ähnliches zu sehen, oder bildete er sich das nur ein? Er war verwirrt und berührt zugleich.
»Wo ist meine Mutter?«, fragte sie.
Abraham blickte zu Levy.
»Wir müssen das nicht alles überstürzen«, sagte Levy. »Das ist alles sehr viel und …«
»Zeigen Sie sie mir.«
Ihre Stimme, die eben ein wenig gezittert hatte, war nun von einer kristallinen Kälte.
Levy führte sie zum zweiten Leichnam. Abraham war gespannt auf ihre Reaktion, ein Gefühl, für das er sich fast schämte, denn wo, wenn nicht hier, gab ein Mensch seinem Innersten Ausdruck; und er stand daneben und dachte und handelte wie ein Bulle, indem er registrierte und wahrnahm.
Aber das würde wie immer später kommen, wenn ihn Phelps und Beenhakker, verbunden durch Leben und Tod, im Traum erschienen
… irgendwo in der Stadt, die er den Toten errichtet hatte.
Als Levy zögerte, das Laken anzuheben, verständlich, denn Beenhakkers Gesicht, aus nächster Nähe von ihrem Mörder bearbeitet, war kein leichter Anblick, und die Tochter hatte gerade erst ihren Bruder identifiziert, da übernahm das Lydia Beenhakker selbst in einer einzigen fließenden Bewegung – in etwa so, wie man ein verkrustetes Pflaster von der Haut reißt, weil man es eben hinter sich bringen will.
»Ja«, sagte sie, und der Abgrund in ihrer Stimme verschlang das Ja auf halbem Wege.
»Das ist sie.«
Nicht: meine Mutter. Mama. Und keine Tränen. Keinen Kuss.
Stattdessen ein kurzer Blick, ein Zucken ihrer Mundwinkel, ein nüchternes Registrieren. Und dann schlug
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