Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
sie das Laken zurück, so als begrub sie eine alte, bittere Geschichte.
Kleber fragte: »Wann haben Sie Ihre Mutter zum letzten Mal gesehen?«
Lydia sagte: »Vor einer Million Jahren …«
(Als du jung warst, dachte Abraham, weil er das die ganze Zeit gedacht hatte. So müde und erschöpft von den Dingen, die hinter ihr lagen. Und kannte nicht auch Abraham diese Gestalt aus grauem Rauch und altem Staub? Der Mann im zerschlissenen Anzug, der sein Gesicht trug. Und gab es in ihrem Leben nicht eine ähnliche, wenn auch weibliche Gestalt? Ganz bestimmt.)
Kleber sagte: »Wir bräuchten es schon ein wenig präziser …« Zum ersten Mal schlich sich so etwas wie ein Lächeln über ihr Gesicht, aber es wirkte wie eine unglückliche, unpassende Entgleisung und verschwand auch sofort wieder. Aber der kurze Auftritt ihres Lächelns, als sie Abraham ansah, veranlasste ihn, ebenfalls zu lächeln, und damit waren sie die zwei einzigen hier in diesem Raum, die eine andere Regung zeigten als Trauer, Ungläubigkeit und professionelle Distanz.
Lydia Beenhakker sagte: »Ich habe meine Mutter seit sehr vielen Jahren nicht mehr gesehen. Aber ich kann Ihnen guten Gewissens ihre Identität bestätigen. Das Gesicht einer Mutter vergisst man nicht, und von dieser hier schon gar nicht. Ja, das ist sie, und sieht sie nicht grauenhaft aus?«
Levy sagte: »Ihre Gesichtsverletzungen sind sehr massiv, es tut mir leid …«
»Es ist nicht ihr Zustand, den ich meine«, sagte Lydia.
Da war eine ganze Reihe von Dingen, die Abraham speicherte, Stoff für Fragen, die ihm zusehends unter den Nägeln brannten. Zum Beispiel, dass Margot Beenhakker Phelps’ Mutterwar. In einer ersten Befragung durch Gottwald hatte Lydia ihr erzählt, dass Stefan Phelps vor vielen Jahren nach Australien ausgewandert war, bis er plötzlich vor ihrer Tür stand. Unangekündigt, einfach so. Und dass er sie nach der Adresse ihrer Mutter gefragt hatte. Mehr hatte Lydia bis jetzt nicht verraten. Auf sie gekommen waren sie durch den Inhalt von Phelps’ Brieftasche, neben einem australischen Reisepass und Führerschein, Kreditkarten und dem Foto seiner dortigen Familie befand sich ein Zettel mit Lydia Beenhakkers Namen und Adresse darauf. Trotzdem fragte sich Abraham, ob es zwischen den Geschwistern nicht vorher schon Kontakt gegeben hatte – einfach so aufzutauchen nach vielen Jahren, quasi aus einem anderen Leben wechselnd, und wusste Phelps da schon von Lydias Scheidung und dass sie unter ihrem Mädchennamen immer noch in Berlin wohnte? Wieso war er nicht länger bei seiner Schwester geblieben?
Als wäre er nur wegen einer bestimmten Person zurückgekehrt. Und warum jetzt, wenn er doch so lange schon am anderen Ende der Welt lebte? Hört sich wie eine Flucht an, dachte Abraham. Der Mordermittler in ihm straffte sich, stellte eine Liste auf, bereitete sich vor. Ja, diese Abläufe waren immer dieselben. Und doch war da noch etwas anderes: das Bedürfnis, mit dieser Frau zu reden. Über den zweifachen Verlust in ihrem Leben, über Tod, Unglück – aber auch über ihre Vergangenheit.
Abraham sah, dass Kleber bereit war, weitere Fragen abzuschießen, deshalb entschied er: »Wir setzen die Befragung an einem anderen Ort fort.«
An Lydia gewandt: »Das war bestimmt sehr schwer für Sie. Wir brauchen das nicht mehr heute zu erledigen, in den nächsten Tagen …«
»Bitte«, sagte sie, »ich möchte das alles so schnell wie möglich hinter mich bringen. Sie glauben, dass Stefan unsere Mutter getötet hat?«
»Nun, er ist zumindest tatverdächtig«, sagte Kleber.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein.«
Gottwald sagte: »Sie sagen das so sicher …«
»Ich weiß es.«
Warum?, fragte sich Abraham.
Kleber verwies auf die Fingerabdrücke in der Wohnung, die auch auf dem Körper der Toten sichergestellt waren, vor allem am Hals, an dem Margot Beenhakker massive Verletzungen aufwies. Genauere DNA-Analysen standen noch aus, aber unzweifelhaft war Phelps zum Zeitpunkt des Mordes in der Wohnung gewesen.
»Was wollte er denn dort?«
»Er wollte sie noch einmal sehen.«
»Hat er Ihnen etwas darüber gesagt? Eine Andeutung gemacht?«
»Nein.«
Wieder blickte sie zu Abraham, als wollte sie ihm ein Zeichen senden, weil sie in Bedrängnis war.
Stattdessen mischte sich Levy ein: »Wenn Sie eine psychologische Betreuung brauchen, es gibt ein Kriseninterventionsteam, welches …«
»Das habe ich ihr schon angeboten, aber sie hat abgelehnt«, sagte Carla.
Alle standen einen Moment
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