Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
unschlüssig herum.
Schließlich sagte Abraham: »Ich bringe Sie nach Hause.«
Damit war Lydia Beenhakker einverstanden.
KAPITEL
FÜNFZEHN
Lydia Beenhakker wohnte gerade mal zehn Minuten zu Fuß von Abrahams angemieteter Wohnung entfernt, und doch waren sie sich bis zum heutigen Tage nicht begegnet. Jedem seinen Kiez, hieß das hier, wir sind alle Bewohner unserer eigenen kleinen Insel, aber das hier war ja gar nicht sein Kiez – das hier war nur der Ort, an dem er sich vor seiner zerrütteten Ehe versteckte. Eigentlich gehörte er gar nicht hierher. Er war ein einsamer Mann, nun, das war seine eigene Entscheidung ebenso wie es Teil seines Wesens war. Manchmal fragte er sich, ob das Leben mit Erin und den Kindern nicht vielleicht doch ein Traum, eine Wunschvorstellung gewesen war, so als existierten sie nur in seiner Sehnsucht nach einer intakten Familie. So als wäre er tatsächlich immer noch alleine, die Mutter tot, der Vater im Knast, der Bruder irgendwo da draußen auf seinem eigenen Pfad in die Nacht. Und nur du bist übrig und kriegst es doch nicht auf die Reihe. Was denn? Zu leben. Glücklich zu sein. War Lydia Beenhakker ein glücklicher Mensch? Die Mutter ermordet, der Bruder ein Selbstmörder, und alles innerhalb eines einzigen düstergrauen Wintermorgens. Du bürdest ihr eine Menge auf, dachte Abraham und wusste eigentlich gar nicht, wen er da genau ansprach. Aber wie auch immer es in ihr aussah, diese Tür blieb ihm vorerst verschlossen. Und doch musste er durch diese Tür treten, wenn er die Wahrheit wissen wollte. Zuerst aber betrat er ihre Wohnung im zweiten Stock eines Altbaus. Lydia Beenhakker zog ihren durchnässten Mantel aus, bot auch Abraham an, den seinen auszuziehen, aber er lehnte ab.
Ihre Wohnung war das genaue Gegenteil der Behausung ihrer Mutter. Waren dort die versifften, hoffnungslose Räume ein verlorenes Gebiet, an die Trunksucht und Verwahrlosung abgetreten, erschien hier alles rein, sauber, fast schon zu makellos.Teures Parkett, schwere Vorhänge, sehr viel Licht, helle Wände. Ein wenig steril, dachte Abraham. Nicht abgewohnt wie bei anderen, die Jahre miteinander verbrachten; er wusste, wovon er sprach. Vor allem war die Wohnung viel zu groß für nur eine Person. Aber da Lydia schon mal einen anderen Namen getragen hatte, erzählte wahrscheinlich auch diese Wohnung die Geschichte zweier Menschen, von denen einer fehlte.
Unterwegs hatte sie ihm erzählt, dass sie jahrelang in der Spedition ihres Mannes die Buchführung gemacht hatte, bis die Ehe auseinanderging und sie bei der Scheidung als Abfindung unter anderem die Wohnung erhielt. Lydia ging in die Küche und ließ Abraham im Wohnzimmer zurück. Eine schwere Couch, ein Tisch, mehrere Sideboards mit Büchern, eine Stereoanlage, der obligatorische Fernseher, geschmackvoll und durchdacht eingerichtet. So wie sich normale Menschen eben einrichten, dachte er. Oder meinen, dass man es so tut.
»Ich koche Kaffee«, rief sie, wahrscheinlich wollte sie sich einfach nur irgendwie beschäftigen. Auch diese Reaktion kannte er von Hinterbliebenen; etwas tun, arbeiten, so sinnlos die Tätigkeit in diesem Augenblick auch war. Der Körper musste beschäftigt werden, um nicht in der Schreckensstarre, dem Nachhall des Todes zu verharren. Das Leben musste weitergehen. Wer wohl diesen blöden Spruch als Erster gebracht hatte?
»Nehmen Sie auch einen?«
Eigentlich nicht, trotzdem sagte er Ja.
»Sie müssen nicht, wenn Sie nicht wollen«, hörte er sie aus der kleinen Küche rufen. »Wenn es nur aus Höflichkeit ist … ich koche grauenhaften Kaffee, viel zu stark, fast verbrannt.«
»Das geht in Ordnung. Meiner ist auch nicht viel besser.« Nachdem er einige Zeit aus dem Wohnzimmerfenster auf die mit erstarrter Kälte überzogenen Straßen geblickt hatte, so glatt, dass die Menschen da unten ins Rutschen kamen und mit kleinen Schritten, die ihn an dahinwatschelnde Pinguine erinnerten,trippelten, ging er in die Küche, weil es eigentlich nicht so lange dauerte, Kaffee, selbst schlechten, zu kochen.
Außerdem verspürte er einfach das Bedürfnis, ihr bei was auch immer zuzusehen.
Zugleich überlegte er, ob er ihr nicht doch die Hilfe eines Seelsorgers oder einer der auf Trauerfälle, vor allem bei Angehörigen von Ermordeten, spezialisierten Einrichtungen anbieten sollte.
Alleine war diese erste Trauerphase kaum zu bewältigen. (Doch da erinnerte er sich an den Satz, den sie beim Anblick ihres Bruders gesagt hatte. Und an ihre
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