Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
durch ein fremdes Land; fremd, weil sie selbst fremd darin waren und fremd den Dingen gegenüber. Selbst die Menschen um sie herumschienen eine andere Sprache zu sprechen, die Worte glücklicher, zufriedener Menschen, die sich in einem anderen Raum-Zeit-Gefüge bewegten. Sie hasste diese Menschen, und sie wusste, dass er es auch tat. Niemand von ihnen würde ihnen je zu Hilfe kommen; wir können auf den Straßen erfrieren, in der Nacht, aber niemals in den Räumen unserer Liebe, dachte sie.
Das alles wühlte sie dermaßen auf, dass ihr Körper keine Ruhe fand. Sie versuchte wieder aufzustehen, und es dauerte geschlagene fünf Minuten, also eine Ewigkeit, bis sie den Kampf mit der Decke gewonnen hatte und der Raum sich vor ihr verbeugte angesichts dieses kleinen Sieges.
Es war dunkel und kalt in Becks winziger Küche. Der Kunststofftisch, an dem Polly saß, war schmierig und zerkratzt – als hätte jemand ein scharfes Messer an seiner Oberfläche ausprobiert. (Draußen war es ebenfalls dunkel, so als zürne der Himmel den Bewohnern der Stadt, und so sah Polly nicht, dass es Namen waren, die Beck dort verewigt hatte.) Von der Decke baumelte eine blanke Glühbirne so trostlos wie ein Erhängter und gleichsam bar jeglichen Lebens. Sie gehörte ausgewechselt, aber Polly war nicht dazu imstande, und die beiden Männer waren weg, tauschten wahrscheinlich Erinnerungen aus. Mevissen hatte sie ja mitnehmen wollen, aber sie hatte gebeten, in der Wohnung zu bleiben. Sie war so müde, ihr Kopf schmerzte und ihre Beine und Arme waren wie mit nassem Kies gefüllt. Ihr Unterleib hatte wieder angefangen zu bluten, ihr Höschen war ganz durchnässt, daraufhin hatte sie in Becks Bad mit dem spärlichen Toilettenpapier das Blut aufgefangen. Elektrische Stöße peinigten sie. Die Wirkung des Tramals ließ nach, es war Zeit für die nächste Ladung. Vierzig Tropfen sammelten sich zu einem kleinen See aus Glückseligkeit in ihrer Handfläche und lagen ihr kurz darauf metallisch auf der Zunge. Aus einer angebrochenen Cola-Flasche trank sie zwei Schlucke, um den Geschmackzu neutralisieren. Dann zwei Lorazepam. Jetzt saß sie wieder neben dem beruhigenden Surren des Kühlschrankes in ihrem Rücken und starrte aus dem Fenster neben der Spüle auf die eisgraue Stadt. Schneeflocken wirbelten durch die Luft, schlugen gegen das Fenster, lösten sich an der Oberfläche auf und flossen wie Tränen an dem Glas herunter. Das Betrachten dieses ständigen Untergangs, beinahe hypnotisierend, ermüdete sie nur noch mehr, und auch die Betäubungsmittel griffen jetzt ein wie wohlmeinende Pfleger, die nur ihr Bestes im Sinn haben. Der Schlaf, den sie eben noch von sich weggestoßen hatte wie einen besonders aufdringlichen Scheißkerl, näherte sich ihr wieder, diesmal mit den düsteren Absichten eines Triebtäters. Aber Polly wollte nicht schlafen. Dösen, schweben, ja, komatös, betäubt, im Innern irrlichternd, dabei nur nicht in den dunklen Schacht fallen, auf dessen Grund Schreckgespenster auf sie lauerten.
Wie ging dieser alte 80er-Hitparaden-Schlager noch mal?
»Komm, wir fahren nach Amsterdam, ich weiß, dass uns dort nichts passieren kann … Regenbogengold haben wir gewollt, rote Rosen sollen vom Himmel fallen und nie verblühen …«
Ja, und jetzt musste man nur noch wissen, dass das Lied von zwei Junkies auf ihrer rosaroten Höllenfahrt erzählte …
»Traum von Amsterdam, der die Hoffnung nahm« … in den 80ern endete eben jeder abgewrackte Junkie entweder als Stricher in Bowies West-Berlin oder stoned in Europas Lieblingsdrogenmetropole Amsterdam … aber das hier waren nicht die 80er, und Mevissen und Polly waren auch keine Heroin/Kokain-Nasen, immer auf der Suche nach dem perfekten Snief / Schuss, immer Ausschau haltend nach der nächsten versifften Bahnhofstoilette, nein, sie waren ja nur medikamenten- und liebessüchtig und lebensüberdrüssig und old-fashioned abgewrackt, schliefen in ihren Kleidern, die das Grau der Tage ihnen an den Leib geschmiedet hatte. Ein anderer Song, Bryan Ferry, »You running with me, don’t touch the ground,we’re the tired and weary, let there be no doubt …« Was war so schlecht daran, eine Sklavin der Liebe zu sein? War es nicht das, was sie wollte, jetzt, wo sie eine Seele gefunden hatte, in der sich ihr eigenes Verlorensein spiegelte? Mevissen liebte sie aufrichtig, und alleine dieses Wort schmolz ihr wie feinste Schokolade auf der Zunge, ›aufrichtig‹, sie hatte dieses Wort vorher noch nie
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