Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
als er dann wirklich an ihr Bett trat, Tränen in seinem gehetzten Gesicht, und ihre Hand nahm, wusste sie, dass es bald so weit war.
Selina schüttelte den Kopf. »Dieser Mann … dieser Mann ist aus unserem Leben verschwunden, aus deinem und meinem, er hat uns verlassen, Mami, uns zurückgelassen, als wir ihn, als du ihn am dringendsten brauchtest … er ist …«
»Zurückgekommen.«
»Das glaube ich nicht.«
Wenn ich es nicht akzeptiere, ist es vielleicht nie passiert, dachte sie. Aber dieser unfassbare klare und wache, in der Gegenwart des Todes sich noch einmal aufbäumende Blick erzählte etwas anderes. Die Wahrheit.
O nein, dachte sie.
Dieser Mistkerl! Was für ein Timing! Ihre Mutter bat sie, ihren Nachttischschrank zu öffnen. Darin lag ein Zettel mit einer Telefonnummer. Die Schrift darauf war die ihres Vaters, sie erkannte sie auf Anhieb wieder, noch so präsent in ihr wie am ersten Tag.
»Ruf ihn an«, sagte ihre Mutter.
Ihr Körper bäumte sich unter einem quälend langen, heftigenHustenanfall auf. Selina gab ihr ein Glas Wasser zu trinken, von dem ihrer Mutter die Hälfte aus dem offenen Mund wieder herausrann.
»Ruf ihn an, er möchte dich sehen …«
Die Hand ihrer Mutter packte unvermittelt und mit erstaunlicher Kraft ihren Arm. Selina rieb ihre Stirn über diese Hand. Sah ihre Mutter wieder an.
»Hast du … hast du ihm meine Adresse gegeben?«
Ihre Stimme zitterte, denn sie fürchtete nichts mehr, als dass ihr Vater einfach so vor ihrer Tür aufkreuzte. Wie sollte sie dann reagieren? Sie brauchte Zeit, um sich auf ihn einzustellen. Eine Strategie zu entwickeln. Ihm ihre berechtigten Vorwürfe ins Gesicht zu schreien. Ihre Enttäuschung, ihren verlorenen Zorn. Irgendetwas … damit sie sich nicht mehr so hilflos fühlte, so elend alleine und verlassen. Ich habe ein Recht auf meinen Zorn, dachte sie. Ihre Mutter hatte den ihren verloren, so wie sie sich bald schon selbst verlieren würde in der allerletzten Umarmung der Nacht.
»Er sprach davon, nicht viel Zeit zu haben«, sagte ihre Mutter und presste jedes Wort angesichts ihrer schwindenden Kräfte hervor, »er sagte, er hätte etwas für dich, eine Wiedergutmachung … du musst nichts wiedergutmachen, habe ich ihm gesagt … wir haben beide Fehler gemacht.«
Selinas Augen füllten sich mit Tränen, und sie weigerte sich, auch nur ein weiteres Wort davon zu glauben. Ihre Mutter aber lächelte, und ihr Lächeln breitete sich wie eine warme Decke über ihr Gesicht aus. »Du hast immer nur meine Version gehört … und die war naturgemäß ziemlich einseitig. Ich war voller Zorn, so wie du jetzt, und ich brauchte jemanden, den ich mit diesem Zorn ausfüllen konnte. Ich brauchte eine Bestätigung meiner Verletzung, meiner Demütigung … und du erteiltest sie mir … aber du warst ein Kind, du hattest niemanden außer mir, und es war falsch. Dein Vater hatte zu Anfang unserer Trennung, denn nichts anderes war es, Selina, immerwieder versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen, aber ich ließ es nicht zu. Es war wohl meine Art von Rache … vergib mir«, sagte ihre Mutter.
»Du hast nichts Falsches getan«, stieß Selina hervor. Panik stieg in ihr auf, und sie verstand nicht, warum.
»Halt mich fest«, sagte Selina, denn sie kippte ihm förmlich entgegen, als sie aus dem Zimmer ihrer Mutter kam, sich in seine feste Umarmung flüchtete und ihr Gesicht in seiner Brust vergrub. So hielt er sie einfach, und das war das Beste, das er tun konnte, und es war der einzige Trost, den er geben konnte, und so standen sie da, ohne sich zu bewegen oder zu reden. Nach einigen Minuten hatte sich Selina wieder gefangen und sie fuhren mit dem Aufzug ins Foyer. Unterwegs zeigte sie ihm die Telefonnummer ihres Vaters. Da er ihre Geschichte aber, wie sie glauben musste, nicht kannte, bekamen die Nummer und das plötzliche Auftauchen ihres Vaters erst eine Bedeutung, als sie ihm von der Leere und Abwesenheit erzählte, die ihr Vater hinterlassen hatte, als er sich aus ihrem Leben stahl. Und Robert, einen Arm um sie geschlungen, hörte zu. Er hörte ihren Zorn, ihre Enttäuschung, das kleine verwundete Kind sprach aus dem Körper der jungen Frau zu ihm, und er dachte an sich selbst, an Frank und daran, wie gottverdammt alleine sie nach diesem dunklen Sommer zurückblieben. Oh, er verstand Selina besser, als sie glaubte. Er konnte jede Nuance ihres Gefühlschaos nachvollziehen.
»Was soll ich nur tun?«, sagte sie, den Zettel in ihrer verkrampften Hand. »Ihn
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