Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Sturmfront gehalten. Überall noch Reste von Markierungen, von Kringeln und Kreisen um Blutspritzer, Positionsbestimmungen, Wegweiser. Buchstaben, die zu entziffern waren. Als lese man in einem Buch des Blutes. Aber sonst? Weder Staub noch Erdkrumen, Fußspuren auch nicht, nur die Sets der Fingerabdrücke von Beenhakker selbst und Phelps. Nur eben nicht auf der Flasche, die der Mörder Beenhakker in ihr Geschlecht gerammt hatte. Warum also dort nicht? Weil eine dritte Person anwesend gewesen war. Jemand, der Handschuhe getragen oder ein verschwundenes Stück Papier, einen Fetzen Stoff um den Flaschenhals gewickelt hatte. Der bei dem Mord dabei gewesen war. Der Mörder selbst? Der nach Phelps die Wohnung betreten hatte? Unbemerkt von Groschek. Oder: der sich die ganze Zeit über in der Wohnung aufgehalten hatte.
Mit Beenhakkers Billigung? Mit ihrem Wissen.
Sich dann versteckt hatte, als Phelps kam. Die Situation zwischen Mutter und Sohn, die Entgleisung, Phelps’ Angriff, sein Würgen mitangesehen und nichts unternommen hatte. Bis Phelps abzog und seine geschundene Mutter zurückließ.
Zu diesem Zeitpunkt noch am Leben.
Lebendig.
Abraham dachte an den Markowitz-Mord und erinnerte sich an Levys Bemerkung in der Rechtsmedizin, dass ein weiterer Mord, der dritte, eine Serie bedeutete und der Täter damit kriminologisch als Serientäter eingestuft wurde. Hatten sie es also möglicherweise mit dem Auftakt einer Serie zu tun? Im Paris Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatte es mal eine Mordserie an alleinstehenden älteren Frauen gegeben, die Täter zwei junge Schwarze, die auf Raubzug waren und dabei ihrer Mordlust freien Lauf ließen. In diesem Fall allerdings ging Abraham von nur einem Täter aus, und falls die beiden Morde, der an Markowitz und der an Beenhakker tatsächlich von ein und demselben Mann begangen worden waren, dann schied Stefan Phelps tatsächlich und endgültig aus.
Ich sollte Kleber darum bitten, eine Liste der ungeklärten Mordfälle an älteren Frauen in den letzten Jahren aufzustellen, dachte er. Weiter. Wie wählt er seine Opfer aus? Nach welchen Kriterien? Wo lernt er sie kennen?
Warum mordet er?
Wie? Wo? Warum?
Es sind ältere, alleinstehende oder geschiedene Frauen, in einem schlechten Allgemeinzustand, Trinkerinnen, sozial abgestiegen, vereinsamt, verachtet, leichte Beute.
Und wer sagt, dass er erst hier damit angefangen hat? Vielleichtsollten wir noch nicht einmal nur auf Berlin schauen, überlegte er weiter.
Vielleicht sollten wir gleich bundesweit suchen. Vielleicht war alles noch viel schlimmer.
Doch noch bevor er Weiteres in die Wege leiten konnte, erhielt er einen Anruf aus dem Gefängnis Moabit. Einen Moment lang dachte er, es gehe um seinen Vater, bis ihm wieder einfiel, dass Karl Abraham, der Jahrzehnte in Moabit gesessen hatte, in den letzten Monaten wegen seiner schweren Erkrankung im Justizvollzugskrankenhaus lag.
Abraham erinnerte sich daran, dass er in all diesen Jahren auf einen ganz bestimmten Anruf gewartet hatte. Einen Anruf, in der eine neutrale, geschäftsmäßig-bürokratische Stimme ihm mitteilte, sein Vater sei in der Haft verstorben oder habe sich umgebracht. Nur ein paar dürre wohlgesetzte Worte. Der Punkt hinter dem Satz. Das Schließen einer offenen Tür. Er hatte immer eine unterschwellige Hoffnung diesbezüglich gehabt und darüber auch mit Robert, am Telefon, wo sonst, gesprochen.
»Das wäre die einfachste Lösung«, hörte er Robert sagen.
»Du denkst also genauso.«
»Ja. Würde uns beiden die Last nehmen, ihm noch einmal in die Augen blicken zu müssen.«
»Ich sehe jeden Morgen in seine Augen«, sagte Abraham, »immer dann, wenn ich pisse und meine Zähne putze.«
»Du kannst schon beides gleichzeitig? Wow, Glückwunsch.«
Sie lachten. Das war es, nicht?
Im Schrecken zu lachen. Ihn anzulachen, auszulachen, ihm den Stinkefinger zu zeigen, diesem alten Affen Angst. Zusammen mit Robert hatte er das immer gekonnt: den Teufel anzuschreien.
Die Brüder Löwenherz.
Gott, wie sehr er ihn vermisste.
Abraham sagte: »Ich wollte immer so sein wie du.«
Robert sagte: »Sei froh, dass du es nicht bist.«
Aber man rief nicht wegen seines Vater an, sondern wegen Martin Krawczyk. Der Mann hatte sich in seiner Zelle erhängt und Abraham etwas hinterlassen.
KAPITEL
FÜNFUNDZWANZIG
Das Restaurant, das Levy vorgeschlagen hatte, lag im jüdischen Bildungszentrum Chabad Lubawitsch in Wilmersdorf, in einem modernen, architektonisch
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