Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
anspruchsvollen Gebäude, in dem sich auch eine Synagoge befand. Weiß eingedeckte Tische, holzvertäfelte Wände, eine schicke Bar. Der Geschäftsführer begrüßte Levy mit einer Umarmung und großem Hallo. Abraham bewunderte seinen Freund dafür, mit so ziemlich allen Menschen, denen er begegnete, warm zu werden, ein völliger Kontrast zu seiner ungeselligen, stillen Arbeit an und mit den Toten. Abraham war zum ersten Mal in dieser Einrichtung. An diesem Ort fiel ihm gezwungenermaßen seine jüdische Abstammung wieder ein und mit ihr eine Vielzahl von Geschichten, so dramatisch und bedrückend wie der Großteil jüdischen Lebens in dieser Stadt, zu allen Zeiten. Doch diese Erzählungen stammten aus dem Fundus seiner Kindheit, und genau das war das Problem – er scheute sich davor, an diesen verhängnisvollen Ort zurückzukehren. Robert und er hatten nie viel über ihren Glauben gesprochen, weder praktizierten sie ihn, noch spielte er eine Rolle in dem Leben, das sie führten.
Einige andere Gäste riefen Levys Namen und, sich augenzwinkernd bei Abraham entschuldigend, machte Levy schnell eine Runde durch das Restaurant, schüttelte Hände, klopfte Schultern, während sich Abraham schon an ihren Tisch setzte.
In diesen Momenten, wenn er sah, wie vernetzt Levy in der jüdischen Gemeinde Berlins war, wie geborgen und beschützt,spürte er die Kluft, die ihn von den anderen trennte, noch viel stärker und schmerzlicher. Gleichzeitig war ihm bewusst, wie sehr er sich wünschte, all diese liebenden, lachenden, glücklichen Menschen, die sich in ihren kleinen, viel zu kurzen Leben so gut es eben ging eingerichtet hatten, vor dem zu beschützen, was in den Schatten lag.
Aber dann sah er Nina Krawczyks entstellten Körper wieder vor sich, hörte ihre Worte und wusste, dass er immer zu spät kommen würde.
»Tut mir leid«, sagte Levy, als er endlich zu Abraham stieß.
»Bist ein begehrter Mann. Und du hast denen allen nicht zufällig verraten, wo du arbeitest?«
»Doch, das mach ich immer als Erstes. Gestatten, Benjamin Levy, Dr. Tod.«
»Und trotzdem schütteln sie deine Leichenfinger.«
Levy grinste. »Vielleicht hoffen sie, bei mir in guten Händen zu sein, wenn es sie mal erwischt.«
»So habe ich das noch gar nicht betrachtet.«
»Tja, irgendwie bin ich wohl so eine Art Schleusenwächter.«
»Du schneidest ihre Körper auf!«
»Ja, genau. Und jetzt habe ich Hunger.«
Abraham bestellte ein Lachsfilet, Levy orientalisches Huhn, so wie er es angekündigt hatte.
Während sie aßen, lauschten sie dem Stimmenwirrwarr um sie herum. Deutsch, englisch, arabisch, jiddisch. Berlin-Babylon. Das war einer dieser Momente, in der Berlin sich wie zu Hause anfühlte und Abraham wieder mal klar machte, dass er nirgendwo sonst leben wollte.
»Wollen wir über Lydia Beenhakker reden?«, fragte Levy nach dem Essen.
»Ich möchte dir zuerst etwas zeigen.«
Er gab Levy einen zusammengefalteten, handschriftlich verfassten Brief. Der Brief war von Martin Krawczyk kurz vor dessen Freitod aufgesetzt worden. Nach dem Anruf war Abrahamin die JVA Moabit gefahren, wo ihm der Brief ausgehändigt wurde. Er war eigens für ihn bestimmt, und Abraham wurde darin auch persönlich angesprochen. Levy lehnte sich zurück und las in dem Brief, einem Din-A4-Blatt, beidseitig beschrieben in der für Psychopathen typisch grandios-ausholenden, größenwahnsinnigen Handschrift.
Levy las konzentriert und schnell.
Abraham trank derweil etwas von dem bestellten Wein, schloss die Augen, aber nicht die Welt aus. Blicke, Gelächter, Gespräche an Nebentischen, Geschirr klirrte, Handys summten, vibrierten. Er wartete, bis sein Freund fertig war.
»Ich nehme an, du willst was von mir dazu hören?«
Abraham nickte.
»Was dagegen, wenn ich einige Passagen laut vorlese?«
»Willst du den anderen den Tag versauen?«
»Keine Sorge, so laut bin ich nun auch wieder nicht. Aber anscheinend willst du darüber reden, sonst hättest du den Brief nicht mitgebracht.«
»Eigentlich würde ich diesen Kerl am liebsten vergessen«, sagte Abraham, »das Problem ist nur, dass ich seine abgeschlachtete Tochter ständig vor mir sehe.«
»Ja, darüber schreibt er auch«, sagte Levy und markierte die Stelle mit seinem Finger.
»Ninas Körper zu zerstückeln beruhte nicht nur auf der Idee, sie damit leichter beseitigen zu können, sondern vielmehr sie dadurch völlig auszulöschen, sie in mikroskopisch kleine Stückchen zu verarbeiten, ihr Fleisch aufzunehmen und ihr
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