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Das Licht des Nordens

Das Licht des Nordens

Titel: Das Licht des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Bloß weil eine Katze ihre Jungen in den Ofen legt, werden noch keine Semmeln daraus.«
    Die Dinge sind nie so, wie sie erscheinen, Pa,
dachte ich. Früher hab ich gedacht, sie seien so, aber ich hab mich getäuscht und war dumm oder blind. Alte Leute beklagen sich ständig über ihre nachlassende Sehkraft. aber ich finde, daß sie mit dem Alter zunimmt. Bei mir jedenfalls ist es so.
    Ich hatte Miss Wilcox für eine altjüngferliche Lehrerin mit einer Vorliebe für die Berge gehalten. Was nicht stimmte. Sie war Emily Baxter, eine Dichterin. die ihrem Mann davongelaufen war. Mr. Loomis hatte ich für jemanden gehalten, der Emmie Hubbard aus reiner Nächstenliebe Milch und Eier brachte. Was nicht stimmte. Höchstwahrscheinlich war er der Grund. daß ihre drei jüngeren Kinder blonde Haare hatten. Nie hätte ich gedacht, daß sich Royal Loomis für jemanden wie mich interessieren könnte, aber inzwischen fuhren wir jeden Abend zusammen aus, und er wollte mir einen Ring kaufen. Ich hatte geglaubt. meine Chancen, in einem der Hotels Arbeit zu finden, seien gleich Null, aber jetzt, zwei Wochen vor Memorial Day und dem offiziellen Beginn der Sommersaison, saß ich neben meinem Vater auf dem Pritschenwagen und fuhr zum Glenmore. Die alte Stofftasche meiner Mama – vollgepackt mit meinem Lexikon. ein paar Büchern von Miss Wilcox, meinen Nachthemden und zwei von Mamas besseren Röcken und Blusen, die Abby für mich enger gemacht hatte – stand auf dem Boden zwischen uns, schwer wie eine Trage Ziegel.
    Zwei Tage zuvor, als ich in den Stall ging, um Pleasant zu holen, hatte ich ihn steif und kalt in seiner Box gefunden. Niemand wußte, warum. Er war nicht krank gewesen. Pa sagte, es sei wohl das Alter gewesen, trotzdem war er ziemlich außer sich, als ich es ihm erzählte. Denn ohne Muli kam er nicht zurecht. Er brauchte es, um die Ernte einzufahren, die Milch auszuliefern und die Baumstümpfe auszuziehen, aber ein gutes kostete um die zwanzig Dollar, und die hatte er nicht. Er war viel zu stolz, um sich Geld zu leihen. aber der alte Ezra Rombaugh aus Inlet, dessen Sohn und Schwiegertochter ihr Land mit Ochsen bearbeiteten, sagte, er würde Pa sein sechsjähriges für vierzehn Dollar verkaufen, die er in wöchentlichen Raten abstottern könne. Daraufhin entschied er, daß ich im Glenmore arbeiten durfte. Die Vorstellung gefiel ihm zwar im Mai nicht besser als im März, aber er hatte keine Wahl.
    Ich hätte aus dem Häuschen sein sollen vor Freude. denn seit Monaten hatte ich ins Glenmore gehen wollen, seit dem Moment im Winter, als Weaver und ich die Idee ausgeheckt hatten. Und jetzt war es schließlich soweit. Aber es war ein zwiespältiges Gefühl. Denn ich sollte nicht etwa arbeiten, um ans Barnard zu kommen. sondern um ein neues Muli für Pa bezahlen zu können.
    Meine Mama hatte einmal einen schönen Korb aus Glas besessen, den ihr Tante Josie geschenkt hatte. Er war tiefindigoblau, mit einem geflochtenen Henkel und einem Rüschenrand, und es stand SOUVENIR AUS CAPE MAY darauf. Mama liebte ihn. Sie bewahrte ihn auf einem Regal im Wohnzimmer auf, aber Lou nahm ihn eines Tages herunter, spielte damit, ließ ihn fallen. und er zersprang in tausend Stücke. Lawton glaubte. er könne ihn wieder zusammenkleben, was ihm aber nicht gelang. Doch Mama warf die Scherben nicht weg. Sie legte sie in eine alte Zigarrenkiste, die sie im Sekretär in ihrem Schlafzimmer aufbewahrte. Ab und zu warf sie einen Blick hinein, hielt ein Stück Glas ans Fenster und beobachtete, wie das Licht hindurchschimmerte, dann räumte sie die Kiste wieder weg. Früher verstand ich nicht, warum sie die Glasscherben aufhob und nicht einfach wegwarf, aber als ich nun mit meinem Pa die Big Moose Road hinauffuhr und darauf wartete, daß das Glenmore in Sicht kam, konnte ich es ihr schließlich nachfühlen.
    Nachdem Pa mit Ezra Rombaugh gesprochen hatte. erkundigte er sich im Hotel, ob noch eine Stelle frei sei. Es tat mir leid, daß ich nicht mehr für Miss Wilcox arbeiten konnte, aber das Glenmore bezahlte mehr. und sie freute sich für mich. Sie sagte, ich würde viel mehr verdienen als ich für die Fahrkarte nach New York bräuchte, und ich brachte es nicht übers Herz. ihr zu gestehen, daß ich der Rektorin des Colleges bereits abgesagt hatte.
    Mein Wochenverdienst sollte vier Dollar betragen. Einen Dollar dürfe ich für mich

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