Das Licht des Orakels
entschieden. »Alle, die von einem Vogel erwählt wurden, können prophezeien, einige natürlich besser als andere …«
»Prophezeien?«, unterbrach Bryn sie.
Dawn warf ihr einen verblüfften Blick zu. »Du weißt doch sicher, was eine Prophezeiung ist? Visionen haben, die das Orakel schickt. Visionen von der Zukunft.«
»Oh.« Bryn kaute auf ihrer Lippe herum. »Dann haben also alle, die von einem Vogel erwählt wurden, Visionen?«
»Ja. Solange sie jung sind. Die Fähigkeit zu prophezeien schwindet mit dem Alter«, erklärte Dawn. »Ich weiß nicht, wie schnell sie schwindet – Helferinnen wird so etwas nicht erzählt. Aber abgesehen von der Fähigkeit
zu prophezeien, haben alle vom Vogel erwählten Menschen eine weitere geheime Gabe, ein Talent, das sie zusammen mit der Feder erhalten. Ein paar der Gaben sind so gewaltig, dass sie nicht geheim gehalten werden können. Zum Beispiel wissen alle, dass vom Geier erwählt zu sein bedeutet, Verfluchungen aussprechen zu können.
Doch eigentlich sollten die Gaben geheim gehalten werden.« Sie beugte sich näher zu Bryn. »Auf jeden Fall haben die meisten der vom Vogel Erwählten gar keine Möglichkeit, ihre Gaben anzuwenden – abgesehen vom Prophezeien –, bis sie in die Priesterschaft aufgenommen werden. Danach hüten sie konsequent das Geheimnis ihrer Begabung.«
»Oh.« Bryn musste daran denken, wie Kiran seinen Hund Jack angesehen hatte. »Ist die Schwanenfeder auch so angesehen?«
Dawn nickte und senkte die Stimme. »Als Kiran vierzehn war, kam während der Vogelweihe ein Schwan auf ihn zugeflogen, aber Kiran hat mit ihm gesprochen – von Geist zu Geist – und ihn dazu gebracht, davonzufliegen, ohne ihn zu erwählen. Seither hat er ihn jedes Mal fortgeschickt. Ich habe das vier Jahre hintereinander miterlebt. Der Meisterpriester möchte natürlich angesehene Federn wie die des Schwans im Tempel haben. Sicher ist er wütend auf Kiran, aber wer weiß schon, was der Meisterpriester denkt.«
Ich bestimmt nicht, dachte Bryn. In diesem Augenblick stürmte ein junger schwarzer Hengst auf den Zaun zu. Dawn sprang auf die andere Seite des Zauns, aber Bryn blieb, wo sie war. Der junge Hengst stupste sie mit seiner weichen Nase an. Sie legte die Hand auf seine Stirn und schmiegte für einen Augenblick ihre Wange an seinen Kopf.
»Die Hengste werden erst im Herbst gezähmt!«, schrie Dawn. »Der ist noch wild!«
Bevor Bryn vom Zaun sprang, klopfte sie noch den Hals des Pferdes. Es stürmte wieder über die Weide davon und irgendetwas an der stolzen Haltung seines Kopfes erinnerte sie an Kiran.
Am Abend saß Dawn an ihrem zerkratzten Tisch, vor sich eine Rechentafel, um die Position von Bryns Sternen zu berechnen. Bryn war eine Minute nach Mitternacht am Tag der Wintersonnenwende geboren worden.
Sorgfältig zeichnete Dawn die ganze Sternenkarte. Sie studierte sie genau, um aus dem Kreis der Symbole auf ihrem Pergament eine Bedeutung herauszulesen.
Viele ungewohnte Konstellationen, meistens mit Ellerth, Herrin über die Erde und ihre Lebewesen. Den Sternen zufolge ist Bryn stärker, als es scheint. Und wenn ich das richtig interpretiere, wird sie ihre ganze Stärke brauchen, um die nächsten beiden Jahre zu überstehen.
Dawn schüttelte den Kopf und fragte sich, welche schreckliche Belastung innerhalb des Tempels auf Bryn zukommen könnte. Würde sie vielleicht nicht vom Vogel erwählt und müsste Clea, Eloise und ihresgleichen bedienen? Viele Helferinnen und Helfer, die als junge Leute in den Tempel kamen, wurden nie vom Vogel erwählt. Sie wurden im Tempel alt, trugen ihr Leben lang die Tracht der Helferinnen und Helfer und mussten erledigen, was immer ihnen aufgetragen wurde. Sollte das Bryns Schicksal sein?
Dawn schüttelte erneut den Kopf. Das glaubte sie nicht. Bryns Sternenkarte zeigte nicht nur eine, sondern drei mächtige Anlagen für Prophezeiung. Mit Sicherheit würde sie vom Vogel erwählt. Nein, Bryns Konstellationen zeigten die Anzeichen von etwas erheblich Bedrohlicherem, als keine Feder zu erhalten.
Was konnte das sein? Wenn ich nur Ishaans Wissen hätte, dann könnte ich mehr verstehen. Vielleicht irre ich mich ja auch. Denn welche Gefahr könnte ihr im Tempel schon drohen?
Dawn dachte an Selid und erschauerte. Ein Klaps auf die Schulter ließ sie fast ihre Tinte verschütten. Sie hatte nicht gehört, wie Alyce den Vorhang aufgezogen hatte.
»Wir sollen zur Sendrata der Helferinnen kommen«, sagte Alyce mürrisch.
Das Licht der
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