Das Licht des Orakels
schrecklich alt und schlicht, aber Jacintas blaue Bänder lenkten den Blick auf ihr faszinierend schönes Gesicht.
Eine Minute verging, während Bryn da stand, die schmalen Hände ineinander gelegt. Voller Hoffnung suchte Dawn den Horizont ab. Eine weitere Minute verging, doch am Himmel rührte sich nichts. Oder doch?
Ein kleiner Windhauch, der erste an diesem Tag, zerzauste das Gras vor Bryns Füßen.
Nun gab es keinen Zweifel mehr. Ein richtiger Wind kam auf, doch nur innerhalb des Kreises, wurde kräftiger und ließ Bryns Kleid gegen ihre Beine flattern. Plötzlich wurde er zum Sturm, riss die Bänder in Bryns Haar los, sodass sie strahlend blau um sie herumschwebten. Bryn verbeugte sich vor seiner Kraft, der leichte Knoten ihrer Haare löste sich, und die Strähnen peitschten wild um ihren Kopf.
Dawn schlug die Hände vor den Mund, um nicht laut herauszuschreien. Erwählt vom Wind! War das möglich?
Der Wind stieß und zerrte an Bryn, bis sie der Länge nach auf dem Boden lag, das Gesicht nach oben, die Augen geschlossen. Eine Böe fuhr unter sie und hob sie hoch. Weder schrie Bryn noch zappelte sie, sie lag einfach in den Armen des Windes, als träumte sie in einem weichen Bett. Wenige Augenblicke später setzte der Wind sie sanft wieder ab. Ein kleiner Wirbelwind verstreute Grasschnipsel um sich, während er sich schnell auf den Rand des Sonnwendkreises zu bewegte, zum Meisterpriester, dessen steifes Gewand er flattern ließ.
Dann war er verschwunden.
Das Entzücken, das Dawn empfunden hatte, als Bryn vom Wind erwählt worden war, schlug in einen Schock um, als sie zu Clea blickte. In der Aufregung hatte Clea offensichtlich vergessen, ihre Gefühle hinter ihrer schönen Maske zu verbergen. Mit glasigen Augen starrte sie Bryn voller Hass an, den Mund vor Wut zusammengekniffen.
Von seinem hohen Podium aus beobachtete Renchald alles. Es war gut möglich, dass ein Meisterpriester lebte und starb, ohne jemals gesehen zu haben, wie eine Helferin oder ein Helfer vom Wind erwählt wurde. Aber die Götter hatten es so gefügt, dass er, Renchald, den Tempel führte, als ein Mädchen eintrat, das vom Wind erwählt wurde.
Sein Vorgänger hatte ihn gewarnt: Die vom Wind Erwählten wurden außerordentliche Propheten oder Prophetinnen, die mit ihren bewundernswert genauen Vorhersagen dem Ruf des Orakels große Dienste erweisen konnten. Doch wenn sie es schafften, sich mit der ganzen Kraft des Windes zu verbinden, wurden sie gefährlich, denn sie waren in der Lage, jederzeit Wirbelstürme herbeizurufen, die fast nicht zu kontrollieren waren.
Außer mit einer Verfluchung.
Die früheren Meisterpriester hatten es geschafft, die vom Wind Erwählten zu zügeln, bevor sie die ganze Kraft ihrer Begabung entwickeln konnten. Der Fluch eines vom Geier Erwählten, im Geheimen bestellt und im Geheimen ausgesprochen, würde jede Bedrohung, die Bryn in Zukunft darstellen könnte, von vorneherein zunichte machen.
Renchald würde nichts überstürzen. Bryn konnte noch jahrelang im Ruhezustand verharren. Er wusste, worauf er zu achten hatte, er wusste, wie sich die Anfänge der verborgenen Kraft des Windes zeigten. Dann würde ihr ein leichter Windhauch folgen, wo auch immer sie sich hinbegab. Es würde nicht auffallen, es sei denn, man war wachsam.
Der Meisterpriester würde wachsam sein.
9
Bryn bat Dawn, ihr zu erklären, was es bedeutete, vom Wind erwählt worden zu sein, doch Dawn konnte nicht allzu viel dazu sagen. »Ich habe von dem alten, überlieferten Wissen darüber nicht viel mitbekommen, außer dass es eine unheimlich seltene Gabe ist. Und deshalb haben dich auch so viele Leute so seltsam angesehen.«
Bryn verzog den Mund. »Und ich hab gedacht, ich hätte einen Fleck auf der Nase.«
Dawn schüttelte entschieden den Kopf. »Die Leute begaffen alles, was anders ist. Mich zum Beispiel, weil ich so groß bin. Aber vom Wind erwählt zu sein, ist sehr viel ungewöhnlicher.«
Bryn seufzte. »Aber was bedeutet es?«
»Ich vermute, dass du genauso im Prophezeien unterrichtet wirst, als hättest du eine Feder bekommen«, antwortete Dawn. »Und ich weiß, dass Ellerth sich um deine Gabe kümmern wird.« Sie hob die Hände. »Aber mehr, tut mir Leid, weiß ich einfach nicht.«
Bryn wollte nach einem Buch suchen, in dem alles erklärt war, doch jedes Mal, wenn sie zur Tempelbibliothek ging, hatten zu ihrer Verwunderung nur Federn Dienst.
Widerstrebend bat sie die vom Kolibri erwählte Charis um Hilfe, doch die
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