Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
Vom Netzwerk:
worden sein. Ziemlich sicher hielt er sie jetzt für tot.
    Bryn empfand den Drang aufzuspringen, zur Ersten Priesterin zu eilen, sich ihrer Gnade anzuvertrauen, die Lüge zu gestehen, von der Vision zu erzählen und im Namen der Götter um Vergebung zu flehen. Doch dann gingen ihr wieder Kirans Worte durch den Kopf: Wenn Renchald erfährt, dass sie lebt und außerhalb des Tempels prophezeit, dann versucht er mit all seiner Macht, sie zur Strecke zu bringen …
    Sie konnte Selid nicht verraten. Sie konnte es einfach nicht.
    Warum hatte die Distelwolle sie zur Alabasterkammer geführt? Warum hatte das Orakel sie ausgewählt? Sie konnte nicht glauben, dass das Zufall war. Dasselbe Licht, das ihr gezeigt hatte, wo sie die Vision von Selid haben würde, hatte sie gedrängt, nicht preiszugeben, was sie gesehen hatte.
    Bryn blickte zu Ilona, die so gelassen, wissend und rätselhaft wirkte. Konnte die Erste Priesterin ihre Gedanken erraten? Warteten die Götter vielleicht nur den rechten Augenblick ab, bevor sie zuschlugen?
    Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und Bryn wischte ihn mit dem ausgefransten Ärmel ab.
    Die Erste Priesterin sprach weiter: »Viele, wenn nicht sogar alle, die anfangen, das Weissagen zu lernen, sind froh, erwählt worden zu sein. Doch dem Orakel zu dienen, ist schmerzhaft schwierig. Für jedes bisschen Glück, das es einem zukommen lässt, bereitet einem das Orakel das doppelte Maß an Kummer. Es sendet Visionen, das stimmt. Einige davon mögen angenehm sein, doch die meisten sind es nicht.« Ilonas Blick war ernst.
    »Bedenkt, was es heißt, die Zukunft zu sehen. Während manchmal schreckliche Ereignisse durch rechtzeitige Vorhersage abgewendet werden können, lassen sie sich ebenso häufig nicht mehr ändern, und das Einzige, was man tun kann, ist, sich auf Not und Katastrophen vorzubereiten.«
    Sie tippte leicht mit dem Elfenbeinstab in ihre Handfläche. »Manchmal werdet ihr Bilder empfangen, die ihr nicht versteht, bis es zu spät ist, um vor dem Gesehenen zu warnen. Wenn euch die Bedeutung einer Vision nicht klar ist, schreibt einfach eine exakte Beschreibung dessen auf, was ihr gesehen habt. Versucht keine Interpretation, bevor euch die Bedeutung nicht klar ist.«
    Sie zeigte mit dem Stab auf Brock. »Du hast eine Frage?«
    Der von der Eule erwählte junge Mann stand auf.
    »Warum ist das Orakel so rätselhaft? Warum sendet es nicht entweder eine eindeutige Vision oder gar keine?«
    Ilonas Ausdruck blieb unverändert. »Nicht das Orakel ist rätselhaft, sondern der Helfer ist unfähig.« Ihr Blick glitt über die Schüler. »Diese Antwort gilt für euch alle, nicht nur für den Schüler, der klug genug war, die Frage zu stellen. Das Orakel schläft nie, aber ihr schlaft, sogar dann, wenn ihr wach zu sein scheint. Das Heilmittel gegen eure angeborene Blindheit ist, Bewusstsein zu entwickeln, die Eigenschaft, wirklich wach zu sein. Und das ist schwieriger, als ihr euch vorstellen könnt.«
    Sie tickte ihren Stab laut gegen den Tisch mit den Teetassen. »Ihr müsst lernen, euren Geist von Hoffnungen und Wünschen frei zu machen, denn der Wunsch, etwas Bestimmtes zu sehen, macht euch blind gegenüber dem, was das Orakel wirklich zeigt. Wenn ihr zum Beispiel Wasser zu sehen hofft, werdet ihr, selbst wenn das Orakel Feuer zeigt, lediglich Dunst oder irgendeine andere irreführende Mischung aus euren Wünschen und dem Wissen des Orakels sehen.«
    Sie zeigte auf die Teekannen. »Diejenigen, die Rat bei den Propheten des Tempels suchen, werden angewiesen, getrocknete Teeblätter von dem Tee zu senden, den sie zuvor getrunken haben. Etwas vom Wesen der Person, die den Tee getrunken hat, bleibt in den Blättern erhalten.
    Das Orakel zeigt das Schicksal, das mit dem Wesen verbunden ist.« Sie hob den Stab. »Noch eine Frage?«
    Brock stand immer noch. »Wenn das Schicksal im
    Wesen enthalten ist«, fragte er, »wie kann dann eine Prophezeiung die Zukunft ändern?«
    Ilonas Augen schimmerten dunkel. »Alle Menschen können Entscheidungen treffen«, antwortete sie. »Wenn zum Beispiel ein Lord vor dem Opium, das er raucht, gewarnt wird, welche Entscheidungen mag er wohl treffen, Brock?«
    Brock zuckte mit den Augenbrauen. »Er könnte seine Pfeife aufgeben, oder?«
    »Wenn er klug wäre«, meinte Ilona. »Aber er könnte auch entscheiden, die Pfeife zu verstecken und weiterhin heimlich zu rauchen. Die Entscheidung, die er trifft, wird
    sein Wesen entweder stärken oder schwächen.« Sie breitete die Arme

Weitere Kostenlose Bücher