Das Licht ferner Tage
Hand.
David wusste, dass die – älteren – Leute das als Hedonismus verurteilten, als Totentanz. Es war eine unreflektierte jugendliche Adaption der nihilistischen Philosophien, die angesichts des herannahenden Wurmwalds Hochkonjunktur hatten: Philosophien, die das Universum als Faust interpretierten, die alles Leben zerschmettern würde. Der Untergang des Universums war unvermeidlich, nur hatte das bisher im Wortsinn in den Sternen gestanden. Durch den Wurmwald stand der kosmische Sensenmann jetzt schon vor der Tür, und was sollte man da noch tun außer die Sau rauszulassen, rumzuhuren und sich einen hinter die Binde zu gießen.
Diese Motive spielten sicher auch eine Rolle. Dennoch war die Erklärung für das Verhalten der Jugend von heute profaner, sagte David sich. In seinen Augen war es eine Konsequenz der WurmCam: Die kompromisslose Verabschiedung von Tabus in einer gläsernen Welt.
Ein paar Leute waren stehen geblieben und schauten dem Paar zu. Ein Mann in den Zwanzigern – ebenfalls nackt – masturbierte hingebungsvoll.
Rein rechtlich war das noch immer illegal. Nur versuchte niemand mehr, solchen Gesetzen Geltung zu verschaffen. Schließlich hatte dieser einsame Mann im Hotelzimmer eine WurmCam, mit der er Tag und Nacht den Leuten ins Schlafzimmer schauen konnte. Dafür hatten die Leute die WurmCam seit ihrem Erscheinen nämlich genutzt; vorher waren Filme und Magazine für diesen Zweck dienlich gewesen. Wenigstens gab es im Zeitalter der WurmCam keine Heuchelei mehr.
Dennoch waren solche Vorkommnisse die Ausnahme. Neue gesellschaftliche Normen bildeten sich heraus.
Die Welt erschien David ein wenig wie ein überfülltes Restaurant. Man hörte mit, was der Mann am Nachbartisch zu seiner Frau sagte; aber es war unhöflich, und wenn man gar zu offensichtlich die Ohren spitzte, wurde man geächtet. Viele Leute fühlten sich auf überfüllten öffentlichen Plätzen wohl, und das Streben nach Intimsphäre trat dann oft hinter den Trubel, die Aufregung und das Gefühl der Zusammengehörigkeit zurück.
David sah, dass das Mädchen sich von ihrem Liebhaber löste und ihn anlächelte. Dann glitt sie mit katzenhafter Geschmeidigkeit von ihm herunter, nahm sein erigiertes Glied in den Mund und…
David schoss die Röte ins Gesicht, und er wandte den Blick ab.
Der Liebesakt war plump, und die Darsteller waren jung, aber nicht sonderlich attraktiv. Eine Kunstform sollte das aber auch nicht sein, nicht einmal Pornografie – vielmehr das menschliche Leben in seiner natürlichen Schönheit. David versuchte sich in den Jungen hineinzuversetzen, wie er von allen Tabus befreit orgiastischer Lust frönte.
Heather bekam von alledem nichts mit. Sie ging mit funkelnden Augen neben ihm her und war noch immer tief in der Vergangenheit versunken – und vielleicht war es an der Zeit, dass er sie dort besuchte. Mit einem Anflug von Erleichterung und einer Anweisung an die Suchmaschine streifte David sich sein GeistigesAuge über und glitt in eine andere Zeit.
Er tauchte in Tageslicht ein. Die belebte Straße, die von großen mehrgeschossigen Häuserblocks gesäumt wurde, war dunkel. Das in die sieben Hügel eingebettete Rom zählte inzwischen eine Million Einwohner.
In mancherlei Hinsicht hatte die Stadt ein erstaunlich modernes Flair. Aber das war nicht das 21. Jahrhundert: Er betrachtete diese pulsierende Kapitale an einem schönen italienischen Sommernachmittag fünf Jahre nach dem grausamen Tod Christi. Motorfahrzeuge gab es natürlich nicht, auch nur wenige Karren und Gespanne. Die gebräuchlichsten Fortbewegungsmittel außer den eigenen zwei Beinen waren Mietsänften. Dennoch waren die Straßen so überfüllt, dass selbst Fußgänger nur im Schneckentempo vorankamen.
David und Heather steckten in einer Menschenmasse aus freien Bürgern, Soldaten, Besitzlosen und Sklaven, von denen sie die meisten überragten. Sie schwebten über dem Kopfsteinpflaster der antiken Stadt, das für die damalige Zeit ein hochmoderner Straßenbelag war. Die Armen und die Sklaven boten ein Bild des Elends. Viele waren durch Unterernährung und Krankheit ausgezehrt und drängten sich um die öffentlichen Brunnen. Die meisten Bürger dagegen waren so gut genährt wie David und hätten in entsprechender Kleidung ohne weiteres als Städter des 21. Jahrhunderts durchgehen können. Manche trugen blütenweiße Togas mit Goldborten – das waren Patrizier, die ihren Reichtum dem über Generationen expandierenden Imperium
Weitere Kostenlose Bücher