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Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition)

Titel: Das Licht hinter den Wolken: Lied des Zwei-Ringe-Lands (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka
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Fluss. Cassiopeia und die Männer warfen sich einen knappen Blick zu, dann folgten sie in gemessenem Abstand.
    April ritt vorbei an den staunenden Kindern und auf die ersten Häuser zu. Die Straßen wirkten seltsam vom Rücken eines Pferdes; Hühner wichen gackernd zur Seite, der Hund des Müllers bellte sie erst an und zog sich dann verunsichert in den Schutz des Brunnens zurück.
    Die ersten Menschen wurden auf sie aufmerksam und starrten sie an. Sie sah den alten Stellmacher und seine Frau, und Maisies Mutter, und da hinten stand Gus, doch keiner sprach ein Wort. Sie verfolgten bloß ihren Weg, großäugig und scheu, Eltern wie Kinder.
    Sie erkennen mich nicht , dachte April. Sie fragen sich, wer die junge Frau auf dem Pferd wohl sein mag, Schwert an der Seite, Kleider und Haar wie ein Mann.
    Dann sah sie ihre Cousine Nell, die einen Korb voll Wäsche unter dem Arm trug. Erst schaute sie nur irritiert, dann weiteten sich ihre Augen voll Unglauben, und sie blieb stehen.
    April empfand keine Regung, weder Befriedigung noch Angst. Es war, wie eine Rolle zu spielen, die sie vor vielen Jahren jemandem versprochen hatte, auch wenn sie nicht mehr wusste, wem und wieso. Janner und die Gefahr, in der er schwebte, alles, was sie die letzten Monate erlebt hatte, schmolz dahin in diesem Moment. Allein der Gedanke an Sarik fühlte sich an diesem Ort so vertraut an wie immer.
    Unwillkürlich hielt sie auf ihr altes Zuhause zu. Vor der schmalen, baufälligen Veranda hielt sie an. Das Haus sah noch schlechter aus, als sie es in Erinnerung hatte, und kleiner. Die Läden waren geschlossen, doch aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Erst da gestattete sie sich, an ihren Vater zu denken. Sie fragte sich, wie sie hier je hatte leben können, Seite an Seite mit einem Menschen, der sie nie gewollt und dem sie den Tod gewünscht hatte; der mehr als einmal versucht hatte, Hand an sie zu legen, aus Gründen, die niemand außer ihm je verstehen würde.
    April stieg ab und band ihre Stute fest. Sie war sich der Blicke der Menschen bewusst, doch sie achtete nicht darauf, sondern konzentrierte sich auf das vertraute Gewicht Schneeklinges an ihrer Hüfte, das Knarren der Stufen unter ihren Stiefeln. Sie streckte die Hand nach der Tür aus und öffnete sie.
    Sie fragte sich, wer heute hier wohnte.
    Drinnen war es dunkel, und es roch nach Sellerie und Rüben und Selbstgebranntem und Schweiß. Sie machte zwei Schritte in den Raum und blieb stehen, denn die Dunkelheit im Inneren barg zu viele Geister. Sie wartete, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, dann ging sie zum nächsten Fenster und stieß es auf. Der Raum hellte sich auf, und die Geister hoben sich hinweg.
    Alle bis auf einen.
    Ihr Vater saß vor dem Kamin in seinem Sessel. Neben ihm auf einem Schemel stand ein halbleerer Topf mit Essen, und zu seinen Füßen standen und lagen mehrere Tonflaschen. Sein Hemd war fleckig und seine Hosen sahen aus, als hätte er sie schon länger nicht mehr gewechselt. Er saß merkwürdig schlaff. Seine Augen starrten ins Leere.
    »Wer ist da?«, rief er. »Rosi? Bist du’s?«
    April blieb stehen, so weit von ihm entfernt, wie das kleine Zimmer nur zuließ. Ihr wurde schwindlig. Ihre Hand fand den Esstisch, und einen Moment war alles wie damals, in der Nacht, als er sich auf sie warf.
    Rosi , dachte sie. Rosi ist die Tochter des Stellmachers. Wieso glaubt er, ich wäre sie?
    Sie schaute ihn an, wie er da saß und sich nicht regte und an ihr vorbeisah, und dachte: Er glaubt es, weil sie ihm das Essen gekocht hat, denn er kocht sich nie selbst und könnte es auch nicht mehr – weil ich ihn die Treppe hinabgestoßen habe. Sie dachte: Deshalb sitzt er da in seinem Sessel. Er kann gar nichts anderes mehr tun als das – und trinken. Er trinkt seinen Schnaps, von morgens bis abends, weil er nicht mehr aufstehen kann.
    All das ging ihr durch den Kopf, doch weder sie noch er regte sich in diesen Sekunden. Ihr Vater richtete nicht einmal den Blick auf sie, auch wenn er ein paarmal den Kopf wandte, und erst Angst, dann Wut auf seinen Zügen spielten.
    »Wer zum Henker ist da?«, polterte er, und diesmal konnte sie deutlich hören, wie betrunken er war. »He da! Rosi, verdammt, mach die Tür zu! Steh hier nicht rum! Machst du dich vielleicht über mich lustig?« Er sah sie an, und doch sah er sie nicht.
    Er ist blind , dachte April. Er ist verkrüppelt und blind.
    Ihre Hand ging in den Beutel an ihrer Seite und schloss sich unwillkürlich um die alte

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