Das Licht in Buddhas Spiegel - Neal Carey 2
übrig?
Eine andere Frage: Wo war Li Lan?
Er verdrängte diese Überlegungen und aß. Die Eier waren gut, nur das Öl schmeckte anders als daheim. An das mantou, das sie anstelle von Toast servierten, hatte er sich schon gewöhnt. Er kaute gerade daran, als er den ersten nichtmateriellen Wunsch verspürte: eine Zeitung.
Gott, wie er sich plötzlich nach einer Zeitung sehnte. Druckerschwärze gehörte zum Frühstück wie Bacon zu Eggs, und er wollte so gern wissen, was in der Welt los war, und vielleicht ein paar Sportnachrichten lesen. War noch Baseball-Saison? Oder Football? Oder befanden sie sich gerade in dieser fantastischen Zeit, in der beide Saisons sich überschnitten?
Du scheinst gesund zu werden, dachte er.
Das Opium vermißte er nicht sehr. Vielleicht hatte er nicht lange genug geraucht, um wirklich abhängig zu werden, oder die Chinesen wußten, wie man Entzugserscheinungen behandelte. Jedenfalls hatte er schon viel schlimmere Krämpfe erlebt, nicht nur bei seiner geliebten Mutter. Hin und wieder, wenn er begann, sich ein wenig zu langweilen, hätte er gern – aber es war mehr ein Wunsch als ein Verlangen – eine Pfeife geraucht. Doch er genoß die wirklichen Gaben – Essen, Komfort – zu sehr, als daß er in Gefahr gewesen wäre. Wenn er bloß eine Zeitung bekommen könnte…
Natürlich könnte auch eine Zeitung ihm nicht seine Fragen beantworten: Warum nannten sie ihn alle Mr. Frazier?
Warum hing der Schrank voller Klamotten für Mr. Frazier? Warum hatten diese Klamotten Labels aus Montreal, Toronto und New York? Warum paßten sie ihm alle perfekt? Wer war dieser Mr. Frazier, der dieselbe Hemdengröße, dieselbe Schuhgröße, dieselbe Beinlänge wie er hatte? Neal trug zwar immer von der Stange, aber Mr. Frazier schien ein enger Freund eines guten Schneiders zu sein. Neal hatte sich im Leben noch nie so gut angezogen.
Er versuchte, verärgert über die ganze Sache zu sein, aber er war zu müde. Er trank noch einen Schluck Kaffee, stand auf und schlüpfte wieder ins Bett. Er brauchte Schlaf, sein Kopf drehte sich schon wieder, und irgendwo ganz hinten in seinem Kopf wußte er, daß er schlafen mußte, um… um was? Er schlief. Der Zimmerkellner würde ihn mit dem Mittagessen wecken.
Es gab Essen für zwei, und es kam früh.
Neal zog seinen Bademantel aus und ein paar Sachen des mysteriösen Mr. Frazier an: braune Hose, hellblaues Sporthemd, Cordovan-Slipper. Er rasierte sich vorsichtig, schnitt sich nur einmal, kämmte sich. Er war gerade fertig, als es klopfte.
Ein junger Mann steckte den Kopf zur Tür herein.
»Darf ich hereinkommen?« fragte er. Sein Englisch hatte nur einen ganz leichten Akzent.
»Ja. Bitte.«
Er war Anfang Zwanzig, ungefähr einssechsundsechzig und wog vielleicht 60 Kilo, wenn er die Taschen voller Kleingeld hatte. Seine graue Hose sah nach Polyester aus, dazu ein steifes weißes Hemd und ein dunkelbraunes Jackett. Dicke Brillengläser in einem braunen Gestell. Kurzes, schwarzes Haar, Seitenscheitel. Er lächelte nervös, aber freundlich, und errötete schüchtern.
»Mein Name ist Xiao Wu«, sagte er. Er streckte die Hand aus, als hätte er das in der Schule gelernt.
Neal schüttelte die Hand. »Neal Carey.«
Wu wurde noch roter und sah zu Boden.
»Frazier«, murmelte er.
»Wie bitte?«
»Ihr Name ist Frazier.«
»Okay.«
Wu strahlte, als er das vollgepackte Tablett auf dem Tisch entdeckte.
»Wir essen Lunch!«
»Bitte, setzen Sie sich.«
»Vielen Dank!« Er verneigte und setzte sich.
»Darf ich nach dem Essen sehen?« fragte er.
»Bitte.«
Wu hob die vier Hauben über den Gerichten und machte zufrieden ooohh und aaahh. Neal hatte den Eindruck, daß dieser Junge nicht allzu viele Geschäftsessen mitmachte.
Wu erinnerte sich an das Protokoll.
»Geht es Ihnen gut?« fragte er.
»Sehr gut.«
»Vielen Dank!«
Oh, gern geschehen, Xiao Wu.
»Möchten Sie Lunch essen?«
Ich lebe im Moment dafür, Xiao Wu.
»Darauf können Sie wetten.«
Wu sah erstaunt aus. »War das eine Redewendung?«
Neal nickte.
»Slang?« Wu lächelte breit.
»Slang.«
»Ich bin sehr an der amerikanischen Sprache interessiert… Sie unterscheidet sich von der englischen«, sagte Wu leise.
»Ich auch.«
»Vor allem amerikanische Schimpfwörter.«
»Dann sind Sie bei mir richtig, Xiao Wu.«
»Werden Sie mir etwas beibringen?«
»Fuck, ja.«
Wu kicherte begeistert, dann wiederholte er einige Male »Fuck, ja«, als wollte er es auswendig lernen. Dann hob er den Deckel
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