Das Licht in Buddhas Spiegel - Neal Carey 2
arbeiten will. Wenn man spielen will, geht man nach New Orleans. In China geht man nach Peking, wenn man etwas erledigen will. Wenn man nichts tun will, geht man nach Chengdu.
Die Bürger Chengdus sehen wie die von New Orleans ihre Stadt nicht als einen Teil des Landes an, sondern als ein eigenes Land. In Chengdu gibt es dafür gute Gründe, denn es war die Hauptstadt des Landes Schu, ein paar hundert Jahre lang, bevor China es schluckte. Der Staat Schu erstand nach dem Fall der Tang-Dynastie wieder auf, was Chengdu und der ganzen Provinz Szechuan eine autonome Attitüde gab, die den Möchtegern-Herrschern in Peking ziemlich auf die Nerven ging.
Chengdu hat von jeher Poeten, Maler und Kunsthandwerker angezogen. Vielleicht liegt es am warmen Wetter oder dem Sonnenschein. Vielleicht am Bambus, am Hibiskus oder an den Reisfeldern der Umgegend. Vielleicht sind es die breiten Boulevards oder die schwarz gedeckten Häuser mit den handgeschnitzten Holzbalkonen oder die Promenaden am Fluß.
Vielleicht liegt es auch am Geist und der Unabhängigkeit, jedenfalls ist Chengdu stolz auf seine Künstler.
Und das Essen. Wie nach New Orleans kommen die Leute auch hierher, um zu essen, und die Einwohner sind immer eifrig bemüht, einem Orte zu zeigen, wo es etwas »Richtiges« gibt. In Chengdu sind das Straßenimbisse, die heiße Nudeln servieren, überlaufene Restaurants, die Tofu in zweiundvierzig verschiedenen Saucen servieren, oder eine Gaststätte in den Vororten, wo es ein scharfes Huhn mit Erdnüssen gibt, das Poeten inspiriert hat.
Und Tee. Bevor die Kulturrevolution sie dekadent genannt hat, gab es überall in der Stadt Tee-Pavillons. Oft im Freien oder unter Bambusdächern, waren die Teehäuser Orte, wo die Nachbarn große Mengen grünen Tee tranken, Mah-Jongg spielten und die faszinierenden Gespräche führten, für die Chengdu berühmt war. Es gab Teehäuser, in denen Dichter saßen und schrieben, und wo Maler skizzierten. In den Tee-Pavillons entkamen die Einwohner dem Nachmittagsregen des Sommers und lauschten den großen Geschichtenerzählern, die stundenlang die Sagen der goldenen Vergangenheit erzählten, Geschichten von fliegenden Drachen, von geflohenen Prinzessinnen, von der Flucht des Herrschers Tang Suang Zung in die Wildnis der Berge Szechuans.
Natürlich veränderte sich Chengdu während der Revolution, und viele Stadtteile wurden dem neuen Gott der Industrialisierung geopfert. Eine neue Generation Künstler reiste an, aber ihre Skizzen wurden nicht zu Bildern, sondern zu Plänen. Die Bevölkerung wuchs auf eine Million Arbeiter, weitere drei Millionen schufteten in den Vororten.
Die neue Regierung ersetzte die effizienten, produktiven Familien-Farmen der Umgegend durch große Kommunen. Zum erstenmal litt die Provinz Hunger. Mao selbst kam 1957 zu Besuch, um seine ökonomische Strategie mit den regionalen Landwirtschaftsexperten zu diskutieren. Er sagte, sie sollten ihre Quoten einhalten.
Dann brach die Kulturrevolution aus, in Chengdu über Nacht; die Roten Garden formierten sich, zerstörten Galerien, vernichteten den Park, der dem großen Dichter Du Fu gewidmet war, schlossen die Teehäuser. Söhne verrieten Väter, Töchter verrieten Mütter, die Gesellschaft verriet sich selbst. 1967 kam es zu einer weiteren Explosion, die Jugendlichen bekämpften einander blutig, sie wollten herausfinden, wer den großen Vorsitzenden Mao am meisten liebte. Die Stadt brannte.
Tausende starben. Viele der Überlebenden wurden ins Gefängnis gesteckt oder in Arbeitslager, oder sie wurden aufs Land geschickt, um aus erster Hand über das Leben der Massen zu lernen. Die Stadt streute sich Asche aufs Haupt.
Jahre der Stille folgten. Maler malten nicht mehr, Dichter dichteten nicht, die Geschichtenerzähler waren entweder klug genug, keine Geschichten zu erzählen, oder sie erzählten sie sich selbst in ihren Zellen. Die einstmals so offene Stadt war hochgeschlossen und wartete, daß der lange Nachmittagsregen endete.
Neal Carey lernte eine Menge über Chengdus Geschichte von Xiao Wu. Xiao Wu redete nonstop, drei Tage lang, während er Neal jede nur vorstellbare Sehenswürdigkeit in Chengdu zeigte. Es war Marathon-Tourismus. Neal fragte sich, ob Wu wirklich stolz auf seine Heimatstadt war, oder ob es William Frazier war, den es zu besichtigen galt, nicht die Stadt. Vielleicht war Wu nur trunken von der Macht, einen Wagen zu haben, einen Fahrer, und die Möglichkeit, englisch zu sprechen.
Nicht, daß es Neal
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