Das Licht von Shambala
jetzt tot.«
Die blinden Augen des Weisen richteten sich unverwandt auf sie. »Bisweilen, mein Kind, ist der Tod eine geringere Strafe als das Leben. Vor allem, wenn er jemanden in meinem Alter ereilt.«
»Ich konnte nicht anders, Meister, verzeiht«, rechtfertigte sich Sarah. »Außerdem haben wir nun eine Chance, rasch ans Ziel unserer Reise zu gelangen ...«
»... in Begleitung einer Schlange, die nur darauf wartet, ihre Giftzähne in unser Fleisch zu schlagen«, fügte Ammon tadelnd hinzu. »War es wirklich mein Wohl, das du im Sinn hattest, mein Kind? Oder hast du dabei an Kamal gedacht?«
Sarah blieb eine Erwiderung schuldig. Die Frage war zu verletzend - und die Antwort zu kompliziert. Natürlich war es ihr darum gegangen, das Leben des Weisen zu retten, ihre Beweggründe waren jedoch egoistischer Natur gewesen ...
»Du musst dich vorsehen, Sarah«, flüsterte der Alte, noch ehe sie etwas erwidern konnte. »Lass nicht zu, dass deine Leidenschaft deine Überzeugung übersteigt. Willst du mir das versprechen?«
»Was meint Ihr damit, Meister?«
»Möglicherweise kommt eine Zeit«, orakelte el-Hakim düster, »da du dich entscheiden musst zwischen deiner Liebe zu Kamal und der Pflicht, die dir das Schicksal auferlegt hat ...«
10.
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Zumindest in einer Hinsicht hat Viktor Abramowitsch Wort gehalten: Noch am selben Tag wurden wir nach Sewastopol gebracht, wo man uns die Fesseln abnahm und uns unsere Habe zurückgab. Allerdings untersagte man uns, den streng bewachten Militärhafen zu verlassen. Unser diesbezüglicher Protest verhallte ungehört.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Zusammenarbeit mit den Russen nicht einfach werden wird, dennoch glaube ich noch immer, dass ich keine andere Wahl hatte. Die Situation ist verworren, und nicht nur ich habe Mühe, den Überblick zu behalten. Auch Hingis und Hieronymos wissen sichtlich nicht, wie sie mit unseren russischen Verbündeten verfahren sollen. Misstrauen herrscht auf beiden Seiten.
Zudem gehen mir die Worte von el-Hakim nicht aus dem Kopf. Obschon auch ich die Pläne der Bruderschaft vereiteln will, hat für mich die Suche nach Kamal die oberste Priorität. Bislang bin ich stets davon ausgegangen, dass diese beiden Ziele einander ergänzen oder sich zumindest nicht widersprechen; Ammons Warnung jedoch hat mich erstmals zweifeln lassen. Schwere Bedenken scheinen el-Hakim im Hinblick auf Kamals Rettung zu plagen. Wenn ich ihn danach frage, zieht er sich zurück und verweigert mir jede Auskunft, sodass ich nur beunruhigende Mutmaßungen anstellen kann.
Währenddessen werden die Vorbereitungen für eine Reise getroffen, wie sie noch keiner von uns jemals auf sich genommen hat und die uns weiter in die Ferne führen wird als jede andere zuvor ...
H AFEN VON S EWASTOPOL , K RIM
A BEND DES 30. A PRIL 1885
Es dauerte mehr als eine Woche, bis die Expedition zur Abreise bereit war. Zwar waren die Depots und Lager von Sewastopol bis zum Rand gefüllt, und Viktor Abramowitsch besaß eine Generalvollmacht, die es ihm erlaubte, sich nach Belieben daraus zu bedienen; aber es zeigte sich, dass eine Unternehmung wie diese, die ja noch nie unternommen worden war, besonderer Vorbereitungen bedurfte.
Infolge der kalten Witterung, die in großer Höhe zu erwarten war, sollte zunächst fellgefütterte Winterkleidung aus Militärbeständen mitgenommen werden, die sich jedoch bei Weitem als zu schwer erwies, um in der Gondel mitgeführt zu werden. Alternativ griff man auf Ölzeug zurück, wie die Seeleute es bei schwerem Wetter trugen, darunter würden die Reisenden Unterkleider aus wärmender Wolle tragen; filzgefütterte Handschuhe und Stiefel sowie Mützen, die sich herunterziehen ließen, sodass sie das ganze Gesicht bedeckten, würden ein Übriges tun, die Passagiere des Luftschiffs vor der rauen Witterung zu schützen.
Der Proviant und die Wasservorräte, die man an Bord nahm, waren spärlich. Laut Abramowitschs Angaben war das Luftschiff in der Lage, Strecken von bis zu 120 Meilen pro Tag zu bewältigen; bei Anbruch der Dunkelheit musste es landen - einerseits, weil das Manövrieren bei Nacht zu große Risiken barg, andererseits, um die neuartigen Akkumulatoren, die den Antrieb mit Elektrizität versorgten, wieder aufzuladen. Bei dieser Gelegenheit konnten jeweils neue Vorräte gefasst und an Bord genommen werden.
Auch was die Ausrüstung der Expedition betraf, erlaubte die Natur des
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