Das Licht von Shambala
Feindseligkeit aus ihren Mienen gewichen, und sie begegneten den anderen Expeditionsteilnehmern mit derselben zuvorkommenden Freundlichkeit wie dem Zyklopen.
»Kommen mit, kommen mit«, forderte der Sergeant sie auf.
»Wohin?«, wollte Abramowitsch wissen.
»In Palast von Radscha.«
»Als Gefangene?«
Der havildar schaute den Russen an, als hätte dieser den abwegigsten aller Gedanken geäußert. »Keineswegs«, widersprach er lächelnd. »Freunde von Mig-shár auch Freunde von Radscha! Sein alle seine Gäste! Folgen mir! Folgen!«
2.
Der Palast des Radschas von Bashar erhob sich oben am Berghang, jenseits der spitzen Schieferdächer von Rampur. Eine schmale Straße wand sich in engen Serpentinen bis hinauf zu dem Bau, der zwar nicht die Pracht anderer Fürstentümer aufzuweisen hatte, jedoch groß und trutzig genug war, um auf die Besucher Eindruck zu machen. Hinter weißen Mauern mit geschwungenen Zinnen erhob sich ein steinernes Gebäude mit hohen Fenstern und kuppelgekrönten Türmen.
Sarah und ihre Begleiter wurden in eine Kammer geführt, in der man ihnen Betelnüsse und Lassis anbot, während der Kommandant zum Radscha ging, um ihm von den ungewöhnlichen Besuchern zu berichten. Es dauerte nicht lange, bis sie vorgelassen wurden. Auf Seidenkissen gebettet und die hookah 28 rauchend, empfing der Herrscher von Bashar seine Gäste.
Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass Abramowitschs Geheimdienstinformationen zutrafen: Der Radscha, ein Mann um die fünfzig, dessen reich bestickte Kleider sich um einen feisten Wanst spannten, wies alle Merkmale von jemandem auf, der oft und in zu großem Umfang dem Alkohol zusprach: Seine von schwarzgrauem Haar umrahmten Züge, insbesondere die Nase, waren gerötet, die Augen hatten einen fiebrigen Glanz. Und insbesondere wer das zweifelhafte Vergnügen hatte, ihm nahe zu kommen und seinen Atem zu riechen, der wusste, dass die hookah das weitaus geringere Laster des Radschas war.
All dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, die Besucher auf das Freundlichste zu begrüßen und ihnen immer wieder zu versichern, wie sehr er sich über ihre Anwesenheit freue - davon, dass er noch vor kurzem drauf und dran gewesen war, sie als Geiseln zu nehmen und um ihre Habe zu erleichtern, war keine Rede mehr. Am meisten bezog sich das Willkommen freilich auf Hieronymos, der, zu Viktor Abramowitschs Missfallen, als Anführer der Gruppe gesehen und angesprochen wurde. Dass es nicht so war, schien dem Radscha und seinen Leuten schlechterdings unvorstellbar.
Sie unterhielten sich auf Hindi, sodass Sarah und die anderen nichts davon verstanden. Auch Abramowitsch, obschon ein Mann vieler Talente, war dieser Sprache nicht mächtig, was ihn sichtlich ärgerte. Sarah war nicht wohl dabei, dass sie nicht mitbekam, was zwischen dem Radscha und dem Einäugigen besprochen wurde, zumal sie nicht einmal wusste, weshalb die Bewohner Bashars dem Zyklopen mit derartiger Zuvorkommenheit begegneten. Natürlich versuchte sie, sich einen Reim darauf zu machen und entwickelte eine Theorie, die sich teilweise schon bald bestätigte.
Der Radscha lud Hieronymos und - wie er es nannte - seine Diener ein, im Palast zu bleiben und dort die Nacht zu verbringen. Während Balakow dies dankend ablehnte, mit der Begründung, dass seine Leute und er lieber beim Schiff bleiben wollten, war der Rest der Besatzung ganz froh darüber, nach mehr als drei Wochen, in denen sie ihre Häupter auf den nackten Boden gebettet und oftmals erbärmlich gefroren hatten, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Zwar machte Abramowitsch kein Hehl daraus, dass er ihrem Gastgeber nicht traute, jedoch hatte auch er nichts gegen ein weiches Lager einzuwenden, und zu dem spontanen Festmahl, das der Herrscher von Bashar zu Ehren der Besucher gab, brachte der Russe gar eine Flasche Wodka mit, die er dem Radscha unter großen Worten und noch größeren Gesten überreichte.
»Sieh an«, raunte Sarah Abramowitsch zu, »das ist ja eine fast menschliche Geste.«
»Fast«, gab der Ochrana-Agent mit einem unbestimmten Lächeln zu. »Täuschen Sie sich nicht in mir.«
Das Mahl, das die Köche des Radschas zubereiteten, ließ keine Wünsche offen: Lammfleisch und Geflügel, das im Lehmofen zubereitet und nach Art der Nordprovinzen mit Pfeffer, Kurkuma und Kreuzkümmel gewürzt war, dazu Reis, Fladenbrot und frische Früchte. Bashar besaß nicht den Überfluss anderer Fürstentümer, war durch den regen Handel mit Tibet aber auch nicht
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