Das Licht von Shambala
weiß, ist mir klar, dass dieses Geheimnis jedes Opfer wert ist.«
»Auch das unschuldiger Menschen?«
Du Gard lachte nur. »Lady Kincaid, Sie sollten aufhören, in solch kleinlichen Dimensionen zu denken, andernfalls wird es Ihnen nicht besser ergehen als Ihrem Ziehvater. Auch er war stets der Ansicht, mir moralische Vorhaltungen machen zu müssen. Von den Idealen der Bruderschaft hat er nichts gehalten.«
»Was für Ideale?«, fragte Sarah. »Brutale Rücksichtslosigkeit? Das Recht des Stärkeren?«
»Sie verstehen nichts, gar nichts. Als mein Vater mir den Codicubus übergab, hatte die Bruderschaft des Einen Auges praktisch aufgehört zu existieren. Napoleons Tod hatte ihren Niedergang eingeleitet, und die einäugigen Verräter machten Jagd auf die wenigen Getreuen, die ihr noch geblieben waren.«
»Ich weiß.« Sarah nickte. Hieronymos hatte ihr die Geschichte erzählt, wenn auch aus einer anderen Perspektive.
»Dann sind Sie klüger, als ich es damals gewesen bin. Ich ahnte nichts von diesen Dingen. Alles, was ich hatte, war ein metallenes Behältnis mit einem Jahrtausende alten Geheimnis darin. Also begab ich mich auf die Suche nach jemandem, der mir dieses Rätsel entschlüsseln konnte, und ich scheute dabei weder Mühen noch Gefahren. In New Orleans wurde ich schließlich nach langer Suche fündig.«
»Maurices Mutter«, folgerte Sarah.
»Ganz recht. Sie war es, die mir das Geheimnis des Codicubus offenbarte und mir verriet, wie er sich öffnen ließ. Und von diesem Augenblick an begriff ich, dass ich zu Höherem ausersehen war.«
»Zu Höherem?«, fragte Abramowitsch zweifelnd. Es war das erste Mal, dass er sich an dem Wortwechsel beteiligte, und der Blick, mit dem du Gard ihn bedachte, war der, mit dem man eine Fliege in der Zuckerdose entdeckte.
»Alors, monsieur - Lady Kincaid und Dr. Hingis sind mir bekannt. Aber wir wurden uns, wenn ich mich recht entsinne, noch nicht vorgestellt.«
»Hauptmann Viktor Abramowitsch von der Armee seiner Majestät des Zaren von Russland«, schnarrte der Offizier zackig und schlug in preußisch anmutender Manier die Hacken zusammen. Dass er überdies für den zaristischen Geheimdienst arbeitete, verschwieg er ebenso, wie Sarah es vorhin getan hatte.
»Nun«, meinte du Gard achselzuckend, »Ihre Berufswahl erklärt immerhin, weshalb Ihnen die Vorstellung, zu Höherem auserwählt zu sein, abwegig erscheint. Wenn Sie jedoch in einer Stadt, in der eine todbringende Seuche wütet, von derlei Dingen erfahren, und wenn diese Seuche, die täglich Hunderte von Menschen dahinrafft, völlig spurlos an Ihnen vorübergeht, so sind Sie von diesem Augenblick an gezeichnet. Vom Schicksal auserwählt.«
Sarah biss sich auf die Lippen. Sie wusste, dass zu Beginn der Fünfzigerjahre mehrere Gelbfieber-Epidemien in New Orleans gewütet hatten. Offenbar war dies genau zu jener Zeit gewesen, da du Gard sich dort aufgehalten hatte. Und womöglich, fügte sie in Gedanken hinzu, waren das grausame Sterben und der allgegenwärtige Tod zu viel für seinen Verstand gewesen.
»Auf diese Weise«, setzte der Schurke unbeirrt seinen Vortrag fort, »erfuhr ich von der Bruderschaft des Einen Auges und beschloss, sie neu zu begründen. Schon in der Vergangenheit war sie stets mit frischem Blut versorgt worden, wann immer sich jemand unter den Menschen fand, der Mut und Voraussicht genug besaß, sich der Herausforderung zu stellen, die die Geschichte ihm auftrug.«
»Sie reden wie ein Wahnsinniger«, stellte Sarah fest.
»Glauben Sie, das wüsste ich nicht?« Mit funkelnden Augen blitzte du Gard sie an. »Denken Sie, ich hätte mich nicht auch gefragt, ob ich nicht längst den Verstand verloren habe? Ob die Seuche mich nicht doch erfasst hat in jener Nacht und ich seither in einem Fiebertraum gefangen bin, aus dem ich nicht mehr herausfinde? Also habe ich nach Antworten gesucht: Woher stammen jene Geheimnisse, die der Menschheit hinterlassen wurden? Welchem Zweck haben sie einst gedient? Welche Beweise lassen sich dafür finden? Was ist die Erklärung?«
»Mit Verlaub«, bemerkte Hingis trocken, »Sie sehen nicht aus wie jemand, der eine rationale Rechtfertigung nötig hätte.«
Du Gard winkte ab. »Ich musste lange nach einer entsprechenden Antwort suchen. Schließlich fand ich sie - nicht etwa in den alten Ruinen, die ich leichtgläubige Idioten wie Gardiner Kincaid nach Hinweisen durchwühlen ließ, sondern in der Neuen Welt. Darin liegt eine gewisse Ironie, nicht wahr? Aber die Menschen
Weitere Kostenlose Bücher