Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
Überdecke brauche, die ich gerade häkle.« Keine niedlichen Strickjäckchen mehr, keine winzigen Sommerkleider mit Rüschen. Inzwischen häkelte sie wieder Decken für die letzten armen Teufel, die noch im Veteranenheim vor sich hinsiechten. Nun, so waren wenigstens ihre Hände beschäftigt, auch wenn es nicht die Gedanken vertrieb.
»Mum, ich bin wirklich nicht in der richtigen Stimmung. Ich bleibe lieber zu Hause.«
»Ach, komm schon, Liebes.«
Als die beiden die Straße entlanggingen, gaben sich die Leute Mühe, nicht zu auffällig hinzustarren. Einige lächelten höflich, doch es fehlte das übliche: »Wie geht es denn so, Vi?« oder »Sehen wir uns am Sonntag in der Kirche?« Niemand wusste, wie man Trauernde behandeln sollte, die keinen Todesfall zu beklagen hatten. Einige wechselten sogar die Straßenseite, um ihnen nicht begegnen zu müssen. Die Einwohner hatten zwar gründlich die Zeitungen studiert, um so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, doch inzwischen war es still um den Fall geworden.
Als Violet und ihre Tochter die Kurzwarenhandlung betraten, schnappte Fanny Darnley, die gerade herauskam, leise nach Luft und blieb, die Augen erschrocken und genüsslich geweitet, draußen auf der Straße stehen.
Im Laden roch es nach Möbelpolitur mit Lavendelduft und den getrockneten Rosen des Potpourris, das in einem Korb neben der Kasse stand. Die Wände waren mit hohen Regalen voller Stoffballen bedeckt – Damast, Musselin, Leinen und Baumwolle. Außerdem gab es Nähgarne in allen Regenbogenfarben und Berge von Wollknäueln. Auf Pappe gewickelte Spitze – dick, dünn, Brüsseler und französische – lag auf dem Tisch, wo Mr. Mouchemore gerade eine alte Dame bediente. Zwischen der Theke im hinteren Ende des Raums und der Tür waren auf beiden Seiten des Ladens Tische mit Stühlen aufgereiht, damit die Kundschaft es bequem hatte.
An einem Tisch saßen zwei Frauen und wandten Isabel den Rücken zu. Eine war blond, ihre dunkelhaarige Begleiterin betrachtete gerade den Ballen zitronengelben Leinens, der aufgerollt vor ihr lag. Und neben ihnen, mürrisch und an einer Stoffpuppe herumnestelnd, zappelte ein kleines blondes Mädchen, makellos mit einem rosafarbenen gesmokten Kleidchen und weißen, mit Spitze besetzten Socken bekleidet, auf einem Stuhl herum.
Während die Frau den Stoff begutachtete und sich beim Verkäufer nach Preis und benötigter Menge erkundigte, wanderte der Blick des Mädchens zu den Neuankömmlingen hinüber. Im nächsten Moment ließ sie die Puppe fallen und rutschte vom Stuhl.
»Mama!«, rief sie und rannte auf Isabel zu. »Mama! Mama!«
Ehe die Anwesenden es sich versahen, hatte Lucy die Arme um Isabels Bein geschlungen und klammerte sich fest wie eine Krabbe.
»Oh, Lucy!« Isabel hob Lucy hoch und umarmte das Kind, das sich an ihren Hals kuschelte. »Lucy, mein Schatz!«
»Die böse Frau hat mich mitgenommen, Mama! Sie hat mich gehauen!« Das Kind schluchzte und zeigte mit dem Finger.
»Oh, mein armer, armer Liebling!« Weinend drückte Isabel das Mädchen an sich, dessen Beine sich sofort um ihre Taille schlossen. Der Kopf schmiegte sich unwillkürlich unter ihr Kinn, und alles passte zusammen wie die Teile eines Puzzles. Sonst nahm sie nichts um sich herum wahr.
Entsetzt beobachtete Hannah die Szene. Die magnetische Anziehungskraft, die Isabel auf Grace ausübte, empfand sie als Demütigung, und sie wurde von Verzweiflung ergriffen. Zum ersten Mal wurde ihr die Tragweite dessen, was ihr genommen worden war, richtig bewusst. Hier vor ihrer Nase war der Beweis dafür, was man ihr gestohlen hatte. Sie sah die Hunderte von Tagen und die Tausende von Umarmungen, die die beiden miteinander geteilt hatten – die Liebe, die für nichts anderes Raum ließ –, spürte, wie ihre Beine zu zittern begannen, und befürchtete schon zu stürzen.
Gwen legte ihr ratlos die Hand auf den Arm.
Hannah kämpfte mit den Tränen. Die Frau und das Kind waren zu einem einzigen Wesen verschmolzen, in einer Welt, zu der sonst niemand Zutritt hatte. Ihr wurde übel, als sie sich bemühte, nicht in Ohnmacht zu fallen und noch einen letzten Rest an Würde zu bewahren. Dann holte sie tief Luft, nahm ihre Handtasche von der Theke und ging so ruhig sie konnte auf Isabel zu.
»Grace, Liebling«, versuchte sie es. Das Kind presste sich weiter an Isabel, und die beiden rührten sich nicht. »Grace, Liebling, wir müssen nach Hause.« Sie streckte die Hand nach dem kleinen Mädchen aus, das
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