Das Liebesleben der Hyäne
diesmal weniger besinnlich.
Ich ging und ging, aber das Camp kam nicht in Sicht. Ich sah mich nach dem See um. Er war nicht mehr da. Ich wußte nicht einmal die ungefähre Richtung, in der er lag. Plötzlich dämmerte es mir. Ich hatte mich verirrt. Diese beiden Zicken mit ihrem Sex-Geschwafel hatten mich so konfus gemacht, daß ich mich verlaufen hatte. Ich sah mir die Gegend an – nichts als Bäume und Gebüsch, und Berge ringsum. Nirgends ein Anhaltspunkt, nirgends eine zwingende Verbindung. Ich bekam Angst. Richtige Angst. Warum hatte ich mich von ihnen weglocken lassen aus meiner Stadt, aus meinem Los Angeles? Dort gab es wenigstens Telefonzellen und Taxis. Es gab sinnvolle Lösungen für sinnvolle Probleme.
Vance Pastures erstreckte sich meilenweit in alle Richtungen. Ich warf mein rotes Notizbuch weg, um eine Spur zu hinterlassen. Ich konnte mir schon die Zeitungsmeldung vorstellen: UNBEKANNTER DICHTER IN DEN WÄLDERN VON UTAH TOT AUFGEFUNDEN
Henry Chinaski, Schriftsteller und ehemaliger Postangestellter, wurde gestern nachmittag von Forstaufseher W. K. Brooks Jr. tot aufgefunden. Die Leiche war bereits stark verwest. In der Nähe fand sich ein kleines rotes Notizbuch, das offenbar Mr. Chinaskis letzte Aufzeichnungen enthielt. Was für ein Ende für einen Schriftsteller. Ich ging weiter. Der Boden wurde jetzt sehr weich, und bei jedem Schritt quoll Wasser heraus. Mehrmals sank ich bis zu den Knien ein und mußte mich mühsam wieder aus dem Moor befreien.
Ich erreichte einen Stacheldrahtzaun. Ich wußte sofort, daß es falsch war, über den Zaun zu klettern, aber ich tat es trotzdem. Es schien keine andere Wahl zu geben. Ich stellte mich hin, formte mit beiden Händen einen Trichter vor dem Mund und brüllte: »LYDIA!«
Es kam keine Antwort.
Ich versuchte es noch einmal. »LYDIA!«
Meine Stimme hörte sich sehr kläglich an. Die Stimme eines Angsthasen.
Ich ging weiter. Ich würde sonstwas dafür geben, dachte ich, wenn ich wieder bei diesen zwei Schwestern sein könnte; wenn ich ihr Lachen hören könnte, ihren Tratsch über Sex und Männer und Tanzen und Parties. Wenn ich mit den Fingern durch Lydias langes Haar streichen könnte. Gott, wäre das schön. Ich würde mit ihr auf jede Party gehen. Ich würde sogar mit sämtlichen anwesenden Frauen einen neckischen Schwof aufs Parkett legen. Mit Handkuß würde ich den munter schwadronierenden Blödmann abgeben. »Hey, kennt ihr den schon? Also da verschlägt es so ’ne japanische Fächer-Tänzerin nach Oregon … hey, Moment mal, das ist ja eine irrsinnig starke Platte zum Tanzen! Los, jetzt machen wir mal so richtig einen locker! Hey, let’s boogie! …«
Ich stapfte weiter durch das Moor. Endlich erreichte ich trockenen Boden. Einen Weg. Es war nur ein ordinärer Feldweg, aber er bedeutete die Rückkehr zur Zivilisation. Ich sah Reifenspuren, Abdrücke von Hufen. Es gab sogar eine Stromleitung. Ich brauchte nur diesem Draht zu folgen …
Ich ging auf dem Feldweg entlang. Die Sonne brannte fast senkrecht herunter. Es mußte also inzwischen um die Mittagszeit sein. Ich schlurfte vor mich hin und kam mir allmählich vor wie der letzte Idiot.
Plötzlich wurde der Weg durch ein Gatter versperrt. Hm. Was sollte das? An der einen Seite des Gatters führte ein schmaler Pfad herum. Anscheinend war hier eine Viehweide. Aber wo waren die Rinder? Wo waren die Cowboys? Vielleicht kamen sie nur alle sechs Monate mal vorbei. Diese Cowboys. Die hatten ein Format, wie es kein Dichter auf der Welt je erreichen würde. Im Vergleich zu ihnen war ich ein wandelnder Batzen Scheiße. Hollywood-Scheiße.
Mitten auf meinem Skalp spürte ich jetzt einen stechenden Schmerz. Ich langte hoch und betastete die Narbe, die mir jemand vor dreißig Jahren in Philadelphia mit einem Totschläger beigebracht hatte. Unter der prallen Sonne war die Narbe angeschwollen und stand nun hoch wie ein Hahnenkamm.
Nach einer guten Stunde Fußmarsch entschloß ich mich zum Umkehren. Den ganzen Weg wieder zurück. Das war schmerzlich, aber es ließ sich nicht ändern. Irgendwann blieb ich stehen und brüllte noch einmal »LYDIA!« Es kam keine Antwort. Ich zog mein Hemd aus und wickelte es mir um den Kopf.
Schließlich kam wieder das Gatter in Sicht. Doch zwischen ihm und mir gab es jetzt ein Hindernis: mitten auf dem Weg stand ein Reh. Es war nicht groß, aber es stand da und rührte sich nicht vom Fleck. Ich ging vorsichtig darauf zu. Würde es mich vorbeilassen? Es schien keine Angst vor
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