Das Lied der alten Steine
biss sich auf die Lippe. »Ist es auch wirklich sicher?«
Serena nickte. »Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass es keinerlei Wirkung tut oder dass sie den Ruf hören, aber nicht kommen. Es kann sein, dass wir das Parfümfläschchen auf dem Altar brauchen, aber ich werde es versuchen.« Sie zündete die Kerzen an, dann machte sie das Licht aus. Einen Moment lang stand sie schweigend und mit geschlossenen Augen, dann fasste sie ein letztes Mal in ihre Tasche und zog ein rechteckiges Paket hervor, das in weiße Seide eingewickelt war. Sie packte es aus.
Es war ein etwa handgroßer Metallgegenstand, dessen Form an das Henkelkreuz erinnerte. Vier Drähte waren über das schlaufenförmige obere Ende gespannt, auf denen wiederum kleine Zimbeln befestigt waren. »Das ist ein Sistrum, das heilige Instrument der Götter«, erklärte sie, als sie es auf den Altar legte und die weiße Seide sorgfältig gefaltet beiseite legte. »Es wird geschüttelt, um zu rufen, zu reinigen und zu schützen.«
»Brauchen wir nicht etwas Wein?« Anna setzte sich auf ihr Bett so weit wie nur irgend möglich von Serena und ihren Aktivitäten entfernt.
»Diesmal nicht. Falls…« Sie unterbrach sich unmerklich.
»Wenn. Wenn es klappt, werde ich zum Dank Opfer darbieten.«
Sie nahm den kleinen Weihrauchkegel aus der Schale und hielt ihn in die Kerzenflamme. »Ich werde dich segnen und beschützen, Anna. Bleib einfach ganz ruhig dort sitzen, was auch geschieht. Wenn du Angst hast, visualisiere dich selbst in einem undurchdringlichen Kreis von blauem Feuer.«
Anna nickte. Ihr Mund war ausgetrocknet.
Als der würzige Duft des Weihrauchs aus der Schale hinaufkräuselte, begannen die Kerzen zu flackern.
Serena psalmodierte flüsternd. Dann nahm sie das Sistrum und wedelte damit in Richtung der vier Ecken des Raumes, danach drehte sie sich zu Anna und schüttelte es in ihre Richtung. »Heil, Isis, Beschützerin deiner Töchter. Sei mit uns. Heil, Isis, wache über uns. Heil, Isis, gib uns deinen Schutz. Heil, Isis, umgib uns mit deinem schützenden Feuer, sodass deine Dienerinnen Anna und Serena dir dienen und mit deinen Priestern Anhotep und Hatsek sprechen können!«
Anna spürte, wie ihre Hände schwitzten. Die Kerzenflammen waren jetzt ruhig; die feine Spirale blauen Rauchs stieg senkrecht zur Decke empor. Der Weihrauchgeruch verursachte Anna Brechreiz und ließ sie frösteln. Sie erkannte ihn: Es war derselbe seltsame, widerliche Geruch, der manchmal ihre Kabine durchdrang.
Serena sprach wieder, ihre Stimme erhob und senkte sich in rhythmischem Singsang. Im Licht der Kerzen konnte Anna den Schweiß auf ihrer Stirn sehen. Ihre Augen waren weit geöffnet und hatten einen starren Blick, ihre Finger hielten den Griff des Sistrums umklammert.
»Heil dir, Anhotep, sei gegrüßt. Komme zu uns, dass wir mit dir sprechen können…«
Immer wieder wurde die Litanei wiederholt. Sie stieg in der stickigen Kabine auf, fing sich unter der Decke und nahm eine geradezu körperliche Präsenz an, die den Druck in dem Raum unerbittlich erhöhte. Anna hielt den Atem an, jeder Muskel ihres Körpers war angespannt, ihre Augen zuckten hin und her und suchten jede Ecke nach der schattenhaften Gestalt von Anhotep ab, bis mit einem fast unhörbaren Seufzer die Kerzen erloschen.
Anna schluckte schwer und unterdrückte einen Schrei. Das Gerassel des Sistrums verstummte, die Stille nahm zu. Plötzlich nahm Anna das Trommeln ihres eigenen Pulsschlags wahr, dann hörte sie ein seltsam gurgelndes Geräusch aus der Mitte des Raumes. Sie strengte ihre Augen an, um Serena zu sehen, die im Finstern regungslos stand und auf den Altar blickte. Das Sistrum fiel ihr rasselnd aus der Hand und sie sank in die Knie. Einige Sekunden lang schwankte sie erschöpft vor und zurück, dann fiel sie zu Boden.
Anna blieb erstarrt sitzen, wo sie war. Sie hatte zu große Furcht, um sich zu rühren, doch der Laut von Serenas heiserem Atem brachte sie auf die Beine. Sie sprang vom Bett und rannte zum Fenster, riss die Verdunkelung herunter und stieß die Fensterläden zurück, dann eilte sie zu Serena, kniete sich neben sie und nahm ihre Hand.
»Serena, Serena, sag etwas!« Sie schüttelte die Hand, dann schlug sie ihr sanft ins Gesicht. »Wach auf! Komm, wach auf!
Du musst mit mir sprechen!« Serenas Gesicht war dunkelrot verfärbt, ihre Augenlider zuckten, ihre Pupillen waren geweitet.
»Serena!«, rief Anna ihr ins Ohr, dann ließ sie Serenas Kopf auf den Boden sinken,
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