Das Lied der alten Steine
Serena zündete ein Streichholz an, die Flamme flackerte leicht, als sie sie an den Weihrauchkegel hielt. Sie brauchte drei Streichhölzer, bis er glühte und ein dünner Faden Rauch aufstieg. Sie wandte sich der Kerze zu. Ihre Flamme brannte kurz hell auf, dann geriet sie ins Flackern und drohte auszugehen. Schließlich beruhigte sie sich und brannte ruhig.
»Isis, große Göttin, ich rufe dich an!« Serena sprach flüsternd.
»Erhöre mich, große Göttin, hier auf deiner Insel, nahe deinem großen Tempel, erhöre mich und komme uns zu Hilfe. Rufe deine Diener Anhotep und Hatsek herbei, sodass wir ihren Streit schlichten und entscheiden können, was mit dem geweihten Fläschchen, das deine Tränen enthält, geschehen soll.«
Sie nahm die Flasche und hielt sie empor in das Samtblau des Himmels. Hinter ihnen schwollen die Musik und die seltsam unirdisch klingenden Stimmen an und hallten über das Wasser zu den schwarzen vulkanischen Felsen in der Ferne. Anna erschauerte heftig.
»Isis, sende deine Diener zu uns! Beschütze uns, beschirme uns mit deiner Magie und sende sie heute Nacht zu uns, damit wir mit ihnen hier auf deinem heiligen Grund sprechen können!« Serenas Stimme hatte sich dramatisch gesteigert.
Hinter ihnen waren die Geräusche verstummt und das Licht gedämpft. Die Insel schien den Atem anzuhalten. Ein sanfter Windstoß streifte Annas Gesicht und sie sah die Kerze zittern.
Ihre Hand umschloss das Amulett an ihrem Hals.
Serena hatte die Augen geschlossen. Sie legte das Fläschchen auf den Boden, dann streckte sie ihre Arme zum Himmel empor.
Irgendwo über dem Wasser stieß ein Vogel einen hellen Schrei aus. Sie konnten die kalte, reine Luft der Wüste riechen, durchsetzt von Myrrhe und Wacholder und Honig aus dem rauchenden Kegel.
Wenige Schritte von ihnen entfernt erschien ein schwaches Licht auf dem Strand. Es verschlug Anna den Atem. Sie warf Serena einen Blick zu, dann sah sie sich behutsam über die Schulter nach dem Tempel um. Sie konnte die Scheinwerfer sehen, die Kreise im Himmel beschrieben. Keiner strahlte in ihre Richtung.
Das Licht vor ihnen wurde größer. Es wurde länglich und nahm Gestalt an und allmählich bekam es immer mehr körperliche Konturen. Sie wagte kaum zu atmen. Serena hatte ihre Arme heruntergenommen und vor ihrer Brust gekreuzt. Sie kniete, den Kopf gesenkt, und wartete.
Sie wartet, dass ich etwas sage. Annas Mund war vor Angst ausgetrocknet. Sie musste sprechen, den Priester fragen, was er wollte. Sie sah zu seiner Gestalt am Strand auf. Er war näher gekommen. Er stand über Serena und sein Schatten fiel über ihr Gesicht.
Serenas Augen öffneten sich plötzlich. In ihnen standen Entsetzen und Angst. »Verräter!«, schrie sie. »Du scheußlicher Verräter!« Hinter ihnen schwoll die Musik an. Ihre Stimme ging in der Kakophonie der Töne unter. »Die Tränen der Isis gehören dem jungen König. Sie werden ihm das Leben retten.«
Anna schnappte nach Luft. Ein starker Schmerz erfasste ihren Kopf. Sie konnte nicht atmen. Sie spürte, wie ihr Körper heiß wurde, plötzlich stand sie auf. Sie konnte fühlen, wie sie Serena überragte.
»Sie gehören den Göttern! Die Tränen gehören den Göttern und ich werde nicht zulassen, dass sie einem anderen zu Nutze sind!« Sie presste die Worte ihren Lippen ab.
Serena sah auf. Die Schattengestalt war schmächtig und zerfetzt. Ein neuer Windzug von der Wüste her löschte die Kerzenflamme und Serena rappelte sich auf.
»Anna!« Ihre Stimme kam aus weiter Ferne. »Anna, sei stark!
Denk an das Licht! O große Isis, beschütze Anna. Mache sie stark! Anna! Anna, kannst du mich hören?«
Doch Anna war weit weg. Ihren Blick zur Sonne erhebend, sah sie sie hoch in den Zenit steigen, ein strahlender Flammenball im blauen Ozean der Ewigkeit. Sie sah die goldenen Klippen, den Eingang zum Tempel, verborgen und geheim, wo die Göttin ihre Wohnstatt auf Erden hatte.
Langsam kam sie näher, bewegte sich mit dem heißen Wüstenwind, lauschte dem Sand, der über weite Entfernungen hinweg flüsterte. In diesem verborgenen Tempel lagen alle Geheimnisse der Ewigkeit, gehütet von nur zwei Priestern, die für alle Ewigkeit Leben auf Leben dem Dienst der Götter geweiht hatten. Sie ging noch näher und spürte den umherschleichenden Schakal, den heiligen Wüstenlöwen, dem Dienst geweiht wie sie.
Und zu ihren Füßen waren die Schlangen der Wüste, die Kobra, die Viper und die Natter. In ihrer Hand hielt sie ein Messer, dessen
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