Das Lied der alten Steine
irgendwie beunruhigte es sie nicht weiter. Toby hatte eine Erklärung für sein Verschwinden und er würde sie ihr in einem geeigneten Augenblick geben. Alles andere war egal.
»Also verzeihen Sie mir?« Andy raunte in ihr Ohr. »Es ging mir nur um Ihr Wohl, verstehen Sie?«
Sie wusste nicht, ob er über den Diebstahl des Tagebuchs und des Parfümfläschchens redete oder ob er sich immer noch auf Toby bezog. Auf einmal war es ihr gleichgültig. Als die Boote ablegten und auf den Fluss hinausfuhren, beugte sie sich vor, sodass sein Arm sie nicht mehr berührte.
Der Tempel war mit Flutlicht beleuchtet. Seine heitere Schönheit spiegelte sich ringsum auf den Wasserflächen. Daneben erhob sich der Trajanskiosk, den Louisa so beredt beschrieben hatte, mit seinen eleganten Säulen, geradezu unwirklich gegen den mitternachtsblauen Himmel, ein verblüffender Kontrast zur Strenge der Pylone vor dem Tempel selbst. Anna verschlug es bei diesem zauberhaften Anblick schier den Atem. »Macht es etwas aus, dass er nicht auf der eigentlichen Insel von Philae ist?
Dass sie ihn nach Aglika verlegt haben?«, flüsterte sie Serena zu. Wie konnte das etwas ausmachen? Er sah so vollkommen aus. Als ob er seit Tausenden von Jahren dort gestanden hätte.
Serena zuckte mit den Achseln. »Eigentlich war die Insel Biga, die Osiris geweiht war, der entscheidende Ort. Ich glaube, das muss da drüben sein.« Sie zeigte in die Dunkelheit. »Ich denke, es ist wie in Abu Simbel. Da war auch noch etwas von dem Heiligen spürbar, oder?« Sie sah hinaus aufs Wasser. »Und sei es nur, weil wir – die Touristen – mit einem Gefühl der Ehrfurcht hingehen. Das müsste doch für die nötige Atmosphäre sorgen, meinst du nicht?«
»Ich glaube nicht, dass alle, die heutzutage hierher kommen, Isis anbeten wollen.« Anna fröstelte und warf einen Blick auf die Tasche in Serenas Schoß. »Ich fürchte mich.«
Serena lächelte in die Dunkelheit. »Ich glaube, dass die Göttin noch da ist. Sie wird kommen. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten.«
»Und wird sie ihre Priester zurückrufen?«
Serena schüttelte bedächtig den Kopf, ihre Augen auf das illuminierte Bauwerk gerichtet, das sich aus dem schwarzen Wasser erhob. »Wer weiß, was sie tun wird?«
Als die Boote sich aufreihten, um nacheinander am Landungssteg unterhalb des Tempels anzulegen, kam Bewegung in die Passagiere. Sie standen auf und kletterten über ihre Sitze, duckten sich unter die Markise, gingen vorbei an dem laut wummernden Maschinenaufbau. Die beiden Männer, aus denen die Besatzung bestand, brachten das Boot behutsam an den Steg.
Jetzt konnte man das Öl riechen, die Abgase aus dem Schornstein. Der Lärm dröhnte durch Mark und Bein.
Anna und Serena hielten sich still im Hintergrund und beobachteten, wie Andy sich mühsam nach vorne arbeitete.
»Er wird nach uns Ausschau halten!« Anna schüttelte den Kopf. Serena sah sie verständnislos an, weshalb Anna ihre Worte wiederholen musste. Sie schrie sie Serena gegen den Krach der Maschine ins Ohr.
Serena nickte. »Wo ist Toby?«
Anna zeigte auf die Menschenmenge vor ihnen.
»Vielleicht lässt Andy uns in Ruhe, wenn er uns mit Toby sieht«, rief Serena zur Antwort. Sie waren nun nah am Ausstieg und beiden wurde auf den hölzernen Landungssteg geholfen.
Serena, die zuerst Land unter den Füßen hatte, stellte sich etwas abseits von den anderen und wartete auf Anna. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass Andy das Gleiche getan hatte.
»Wir müssen ihn loswerden, sonst haben wir nicht die geringste Chance, abzutauchen.« Sie ließ ihren Blick über die Schatten ringsum schweifen. Es gab etwas Gebüsch, ein paar kleine Bäume, aber alles war gut beleuchtet, und der Weg zu den Stuhl-reihen, wo das Publikum sitzen würde, war deutlich markiert.
»Kommt schon, ihr beiden. Wir wollen vorne sitzen!«, rief Andy.
Anna warf Serena einen kurzen Blick zu. »Gehen Sie nur, Andy.« Sie verschränkte die Arme. »Ich will neben Toby sitzen.«
Sie sah die Verärgerung in seinem Gesicht. »Soll das ein Witz sein?«
»Nein. Nein, ich mache keine Witze.« Kalt erwiderte sie seinen Blick.
»Glauben Sie nicht an seine Geschichte?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Andy. Und ansonsten geht es Sie auch nichts an. Bitte, gehen Sie nur. Folgen Sie den anderen.«
Einen Augenblick lang dachte sie, er würde es ablehnen, aber plötzlich erschien Toby. Er stand am Rand des Weges und wartete. Andy betrachtete ihn mit unverhohlenem Abscheu und
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