Das Lied der alten Steine
Alexandria an die Mittelmeerküste zu fahren, um den Heimweg nach Europa anzutreten.
Sie legte ihr Skizzenbuch beiseite, stand auf und sah hinaus in die Dämmerung. Die Sonne, ein karmesinroter Ball, stand tief über den Hügeln von Theben und warf einen roten Schimmer über das Wasser.
In der Kabine hinter ihr ertönte ein Geräusch, als ob sie nicht alleine wäre. Es war nur ein Gefühl. Ohne sich umdrehen zu müssen, wusste sie, was es war. »Ich habe versucht, das Fläschchen euren Göttern zurückzugeben«, sagte sie leise.
»Jedes Mal kommt es zurück zu mir. Was soll ich denn tun?«
Sie fürchtete sich nicht. Sie sah weiter auf das Wasser hinaus.
Irgendwo da draußen, wo die Berge die Farbe von Blut annahmen, bevor sie sich in Dunkel hüllten, stand der Tempel, in dem jene Priester zu den Göttern gebetet und ihnen ihre unsterblichen Seelen geweiht hatten.
Das Fläschchen, immer noch eingewickelt in das fleckige Seidentuch, lag irgendwo zwischen den Farben und Pinseln auf dem Tisch hinter ihr. Die Kabine wurde langsam dunkel. Die Sonne kroch hinter die Hügel und die erste Nachtluft wisperte über das Wasser. Sie schloss die Augen.
Nimm es. Bitte, nimm es.
Die Worte hallten so mächtig in ihrem Kopf, dass sie schon dachte, sie hätte sie laut ausgesprochen.
Auf den Booten am anderen Ufer wurden Lichter angezündet; die Hügel waren verschwunden und die Sterne begannen einer nach dem anderen zu blinken.
Hinter ihr klopfte es laut an die Tür, kurz darauf trat Treece mit einem Kerzenhalter ein. Sie knallte ihn auf den Tisch. »Soll ich Ihnen beim Ankleiden helfen, Mrs. Shelley?« Das Gesicht der Frau war mürrisch. Wütend. Binnen Sekunden wusste Louisa, warum.
»Sir John sagt, dass der Dampfer ausgebucht ist. Es gibt bis nächste Woche keine Kabinen mehr, also werden Sie die kurze Zeit noch bei uns bleiben müssen.« Sie rümpfte missbilligend die Nase und wandte sich ab, um einen Wasserkrug zu holen.
Louisa sah ihr unglücklich hinterher. Sie wollte fort von Ägypten. Sie wollte dieses Kapitel ihres Lebens abschließen, in dem jeder Luftzug aus der Wüste sie an den Mann erinnerte, den sie geliebt und der ihretwegen den Tod gefunden hatte.
Ihr Blick fiel auf den Tisch. Eine Sekunde lang blieb ihr das Herz stehen. Sie dachte, das Fläschchen wäre fort. Doch dann sah sie es, klein, in schmutziger Hülle, halb versteckt unter einer Schachtel Kohlestifte. Als Treece den Kerzenständer so unsanft auf den Tisch gestellt hatte, war Wachs über den ganzen Tisch gespritzt. Ein kleines Klümpchen klebte an der fleckigen Seide, wie ein winziger Stalaktit, und sah bereits ebenso alt aus wie das Glas unter der Hülle.
Als sie es ansah, wusste sie, was sie zu tun hatte. Am nächsten Tag würde sie Mohammed bitten, sie noch einmal in das Tal der Gräber zu bringen, und dort würde sie das Fläschchen im Sand vergraben, unter einem Bild der Göttin, denn sie war es, die über sein weiteres Schicksal entscheiden musste.
Anna fielen die Augen zu. Sie nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas. Ibrahim hatte Brandy, aber auch anderes in den Drink gemischt, seltsame, bittere Aromen, die sie nicht identifizieren konnte. Das Tagebuch wurde ihr plötzlich schwer in den Händen, sie ließ es auf die Decke sinken und sah schläfrig zum Fenster ihrer Kabine. Selbst bei dem Licht der Lampe neben ihrem Bett konnte sie noch die Sterne über dem Horizont erkennen. Mit einem Seufzer streckte sie ihre Hand aus und löschte das Licht. Nur einen Moment wollte sie ihren Augen Ruhe gönnen, dann würde sie in die Dusche gehen, um die Steifheit und den Schmerz der Nacht abzuwaschen.
Als sie tiefer in Schlaf sank, rückten die Schatten ihr näher und das Lied der alten Steine wurde lauter.
Sie wurde von der Sonne geweckt. Heiß. Rot. Glut unter ihren Augenlidern. Sie konnte die brennende Hitze auf ihrem Gesicht spüren, mit jedem Atemzug den scharfen Biss in ihren Lungen, das Kratzen des Sandes in ihren Sandalen. Langsam ging sie zum Eingang des Tempels. Sie schüttelte den Kopf, um sich von dem Dunst zu befreien, der sie zu umfangen schien. Einmal kroch sie wie eine Schlange auf ihrem Bauch über den Sand, dann schwebte sie mit dem Falken und dem kreisenden, immer lauernden Geier durch die Lüfte.
Sie ließ sich willenlos, wurzellos treiben, voller Zorn, dann kalt vor Furcht, als die Götter näher kamen, die Köpfe schüttelten und sich abwandten.
»Anna? Anna!«
Stimmen hallten in ihrem Kopf wider und verstummten,
Weitere Kostenlose Bücher