Das Lied der alten Steine
hübschen kleinen Reihenhaus in Notting Hill und sie stiegen alle aus. Anna stand da und betrachtete den warmen grauen Ziegelstein, die quadratischen Queen-Anne-Fenster mit den schmalen schmiedeeisernen Halterungen für die Blumenkästen, die blaue Eingangstür mit dem halbmondförmigen Oberlicht und den kleinen Vorgarten.
Es kam ihr vertraut vor, aber doch irgendwie ohne Bezug.
»Es sieht hübsch aus«, sagte sie mit einem gequälten Lächeln.
»Bist du sicher, dass ich hier wohne?«
»Sicher ist für mich gar nichts.« Toby legte ihr vorsichtig den Arm um die Schultern. »Sieh doch mal nach, ob du den Schlüssel hast.«
Sie sah ihn aufmerksam an, dann wühlte sie in ihrer Umhängetasche und zog einen Schlüsselbund heraus.
Das Haus roch kalt und unbewohnt und hinter der Tür lag ein Stapel Briefe. Sie bückte sich, um sie aufzuheben, dann ging sie ins Wohnzimmer rechts von der engen Diele und sah sich um.
Das Zimmer war mit alten Möbeln eingerichtet. Farbenfrohe Teppiche und Kissen sowie scharlachrote geraffte Vorhänge, die halb über die nach hinten zum Garten hinausgehenden Fenster gezogen waren, brachten das schlichte polierte Holz wunderbar zur Geltung.
Toby griff zum Lichtschalter. »Hübsches Haus.« Er grinste.
Auf einem Tisch bei dem kleinen Knole-Sofa blinkte der Anrufbeantworter und zeigte fünf Gespräche an.
»Nur fünf, obwohl ich wochenlang weg war.« Anna starrte auf das Gerät.
»Ich nehme an, deine Freunde wussten alle, dass du weg warst. Und haben gerade erst bemerkt, dass du eigentlich zurück sein müsstest.« Tobys Erklärung war vernünftig. »Willst du ihn nicht abhören?« Er stand mit dem Rücken zum Kamin, die Arme verschränkt. »Vielleicht ist was dabei, was dir auf die Sprünge hilft.«
Anna zuckte die Achseln und drückte den Abspielknopf.
»… Anna, meine Liebe, hier ist deine Großtante Phyl!« Die Stimme klang laut und vorwurfsvoll in dem stillen Zimmer.
»Wo in aller Welt steckst du? Du hast gesagt, du kommst mich besuchen, sobald du zurück bist. Ich muss unbedingt hören, wie es dir ergangen ist. Ruf mich an.«
»… Anna? Deine Großtante denkt anscheinend, dass du ihr aus dem Weg gehst. Ruf sie an oder mich, Herrgott nochmal!«
Das war eine beleidigte männliche Stimme. Ihr Vater. Sie erkannte sie, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.
»… Anna, hier ist Felix. Ich habe deine Postkarte bekommen.
Ich bin so froh, dass es dir gut gefällt. Pass auf dich auf.« Auch diese Stimme war vertraut. Sie fing an zu lächeln.
»… Anna? Anna, bist du da?« Schweigen, dann ein unterdrückter Fluch. Weiblich. Unbekannt.
»… Anna? Hier ist wieder Phyllis. Meine Liebe, ich mache mir Sorgen um dich. Bitte melde dich.«
Toby beobachtete ihr Gesicht. »Du hast die Stimmen erkannt?«
Anna nickte. »Und das Haus auch. Es ist alles vertraut.
Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass es meines ist.« Sie schüttelte den Kopf und legte die Hand an die Augen. »Ich fühle mich hier wie eine Fremde. Aber ich erkenne alles wieder.«
»Ich rufe jetzt deine Tante zurück.« Toby nahm das Telefon und wählte 1471. Nach einer Pause sah sie, wie er die 3 für den Rückruf drückte.
Das Telefon klingelte lange, bevor jemand abhob. »Willst du mit ihr sprechen?« Toby hielt ihr den Hörer hin. Mit einer Geste der Unsicherheit nahm Anna den Hörer.
»Anna? Anna, Gott sei Dank, mein Liebling! Ich habe schon gedacht, du hast dich in Ägypten verliebt oder hast dir einen gut aussehenden Scheich gesucht oder so etwas und beschlossen, nie wieder nach Hause zu kommen!« Die Stimme am anderen Ende machte eine Pause. »Anna?«
Anna schüttelte den Kopf. Tränen rannen ihr übers Gesicht.
Sie konnte nicht sprechen.
Toby nahm ihr den Hörer ab. »Miss Shelley?« Er lächelte Anna aufmunternd zu. »Es tut mir Leid, dass ich unterbreche.
Mein Name ist Toby Hayward. Ich war mit Anna auf der Kreuzfahrt. Es geht ihr nicht besonders gut. Könnten Sie es einrichten, nach London zu kommen, oder könnte ich sie zu Ihnen bringen? Sie möchte Sie so gerne sehen.«
Er lauschte einige Sekunden, beantwortete rasch besorgte Fragen, beruhigte und nickte. »Okay. Ich bringe sie morgen nach Suffolk. Ich bin sehr froh, dass wir Sie erreicht haben.«
Er legte den Hörer auf. »Sie wollte, dass du schon heute kommst, aber ich dachte, du bist vielleicht zu müde. Wir brechen morgen ganz früh auf.« Er blickte zu seiner Mutter, die ruhig neben der Tür gestanden und den Raum betrachtet
Weitere Kostenlose Bücher