Das Lied der alten Steine
plötzlich wurde ihr eine tiefe, mit Nebel gefüllte Kluft in ihrer Erinnerung bewusst. »Hat Toby Ihnen nichts über Andy und mich erzählt? Wie er das Tagebuch meiner Ururgroßmutter in seinen Besitz bekommen wollte?«
Frances nickte. »Doch, das hat er mir erzählt. Er hat mir viel erzählt, aber er hat auch manches ausgelassen.«
»Ach?« Anna starrte in ihre Schokoladentasse.
»Solche Dinge, die mich nichts angehen, zum Beispiel, welche Gefühle Sie beide füreinander haben.«
Anna fühlte, wie ihre Wangen rot wurden. »Ich weiß, welche Gefühle ich für ihn habe.«
»Sie haben ihn gern?« Frances sah auf und lächelte, als sie Annas Blick traf. »Verliebt?« Sie winkte mit der Hand, wobei sie die Finger kreuzte.
»Schon möglich.« Anna zuckte die Schultern. »Aber wir waren so kurze Zeit zusammen und diese Zeit war schwierig!«
Frances prustete. »Das ist etwas untertrieben, scheint mir! Ich will nicht weiter in Sie dringen, meine Liebe. Sie sollen nur wissen, dass ich mich sehr freue, dass Toby Sie kennen gelernt hat.« Sie streckte den Arm über den Tisch und drückte Annas Hand.
Anna ging dieses kurze Gespräch nach, als sie in der Badewanne lag und in der Ölbeimischung aus Rosen und Lavendel schwelgte, die sie im Regal darüber gefunden hatte, und allmählich legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen. In ein großes weiches Badetuch gehüllt stieg sie in ihre Dachkammer hinauf, und während sie dort eine Weile im Kreis herum ging, dachte sie über ihren Besuch morgen mit Toby bei der Großtante nach, Das Tagebuch lag auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster. Sie stand da und betrachtete es. Sie hatte versprochen, es Frances zu lesen zu geben, während sie weg waren. Aber waren da nicht noch ein oder zwei Seiten, die sie selbst noch nicht gelesen hatte?
Ihre letzte Erinnerung an das Schiff war, dass sie das Tagebuch auf das Bett in ihrer Kabine geworfen und dann selbst dort gelegen und an die Decke gestarrt hatte, überwältigt von Furcht und einer seltsamen, fremdartigen Wut.
Nachdenklich griff sie nach dem Buch. War er wirklich fortgegangen, der Priester, der sich in ihr eingenistet hatte, oder wartete er nur auf den richtigen Augenblick? Sie schauderte; sie bewegte den Kopf vorsichtig von einer Seite zur anderen, wie um ihn zu prüfen, dann schaute sie hinunter auf das Buch in ihren Händen. Im letzten Abschnitt hatte sie gelesen, dass Louisa vorhatte, ins Tal der Gräber hinauszugehen, um das Parfümfläschchen, das, wie sich herausgestellt hatte, eine geweihte Ampulle war, zu Füßen der Isis zu begraben.
Es dämmerte, als Louisa und Mohammed ihre Esel bestiegen und, indem sie dem Fluss den Rücken zukehrten, nach Westen loszogen über die fruchtbaren, dicht bepflanzten Felder. Sie ritten schweigend, ungehindert von Packtieren oder Begleitern, und beobachteten, wie das schwache, klare Licht von Minute zu Minute stärker wurde. Als die ersten gebündelten Sonnenstrahlen lange Schatten vor ihnen über die Erde warfen, hatten sie bereits das Ende des fruchtbaren Landes erreicht und waren unterwegs in die grelle Hitze der Wüste.
»Wohin willst du die Flasche bringen, Sitt Louisa?« Endlich sah Mohammed zu ihr herüber. »Zu welchem Grab willst du gehen?«
Louisa zuckte die Schultern. »An einen stillen und verborgenen Ort, sodass die Flasche in Frieden ruhen kann. Ich muss ein Bild der Göttin Isis finden, damit die Flasche in ihrer Nähe liegen kann.« Plötzlich stolperte ihr Esel und sie griff nach dem Sattel, um sich festzuhalten. »Mehr habe ich nicht vor. Wir können anschließend gleich zum Boot zurückkehren und alles vergessen.«
Er nickte ernst. Der Pfad war enger geworden, als sie den Eingang des Tales erreichten. Er blickte umher, zu den dunklen Eingängen in den Felsen. Er war kein Dragoman. Er hatte, was das Tal betraf, nicht Hassans Kenntnis und Erfahrung. Er zügelte den Esel und schüttelte den Kopf. »Weißt du noch den Weg?«
Sie starrte in die Runde, in der Hoffnung, Mohammed würde die Tränen in ihren Augen auf die blendende Helligkeit der Morgensonne zurückführen, die von den glitzernden Felsen reflektiert wurde. Ihre Erinnerungen an diesen Ort waren so eng mit Hassan verbunden, jeder Fels, jeder Schatten trug den Abdruck seines Gesichts, jedes Echo hatte den Klang seiner Stimme.
Endlich trieb sie den Esel vorwärts. Diesmal gab es noch andere Besucher im Tal, Reisegruppen mit ihren eigenen Dragomanen, die alles anschauten oder wieder ans Tageslicht kamen voll
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