Das Lied der alten Steine
sich. »Ich habe euch so viele Umstände gemacht.« Mit unglücklichem Gesicht sah sie auf. »Und es ist alles meine Schuld.«
»Es war nicht Ihre Schuld.« Frances kam und kniete sich vor sie hin. »Überhaupt nicht. Wie hätte irgendjemand ahnen können, dass solche furchtbaren Dinge passieren?« Ihr war kalt.
»Kommen Sie. Wir wollen Ihnen ein paar warme Sachen zusammenpacken. Dann gehen wir nach Hause. Morgen treffen Sie Ihre Großtante und allmählich wird alles wieder aufs normale Gleis kommen.«
»Nichts kann je wieder normal sein.« Anna schüttelte den Kopf.
»Ich habe Andy getötet. Mit Hilfe der dummen kleinen Flasche.«
»Nein.« Toby blieb hartnäckig. »Red dir auf keinen Fall so was ein, Anna. Was Andy getötet hat, war eine große Flasche –
voll Wodka – auf einen leeren Magen!«
Zum ersten Mal an jenem Abend fragte sie sich, wo Toby wohl hingegangen war, nachdem sie zu dritt an dem kleinen runden Tisch in Frances’ Souterrainküche gegessen hatten. Sie wartete, bis er sie beide auf die Wange geküsst hatte, dann die Stufen hinaufgerannt und, während er mit den Wagenschlüsseln klimperte, in der kalten Londoner Nacht verschwunden war, bevor sie sich bei Frances danach erkundigte.
Frances lachte. »Hat er Ihnen das nicht gesagt? Er wohnt bei einem Mann namens Ben Forbes. Soviel ich weiß, hat er ihn auf Ihrer berüchtigten Kreuzfahrt getroffen.« Sie zögerte. »Toby lebt in Schottland, Anna. Das wussten Sie doch? Nachdem seine Frau starb, wollte er nicht mehr in London bleiben und schenkte mir dieses Haus. Normalerweise wohnt er oben in Ihrem Schlafzimmer, wenn er in der Stadt ist, aber jetzt wollte er nicht, dass es Ihnen zu eng wird.«
»Er ist sehr freundlich zu mir gewesen«, sagte Anna nach–
denklich. »Ich weiß nicht, wie es mir ohne ihn ergangen wäre.«
Sie hob den Blick. »Und ich hätte Sie nicht kennen gelernt.«
Frances lächelte. »Es hat mich so gefreut, dass er Sie hergebracht hat.« Sie machte für sie beide gerade einen Schlummertrunk. »Sicher haben Sie sich schon gedacht, dass ich verwitwet bin. Und Toby ist ein Einzelkind. Ich bin so froh, dass wir, er und ich, Freunde sind. Ich nehme an, er hat Ihnen von der schrecklichen Zeit vor zehn Jahren erzählt?« Sie hob den Blick und fuhr fort, als Anna nickte: »Er wurde sehr abweisend, nachdem Sarah gestorben war; er schloss so viele Menschen aus seinem Leben aus.«
Dies war der Augenblick, um Fragen zu stellen. Um mehr darüber herauszufinden, was geschehen war. Anna zögerte und der Augenblick war vorüber. Stattdessen fragte sie: »Kommen Sie morgen mit uns nach Suffolk?«
Frances schüttelte den Kopf. »Nein, meine Liebe. Ich würde sehr gerne irgendwann Ihre Großtante kennen lernen, aber nicht dieses Mal.« Sie zögerte. »Toby sagte, Sie sind geschieden?«
Anna nickte.
»Das muss sehr traurig für Sie gewesen sein.«
»Eigentlich nicht. Zuerst war es ein Schock, zu sehen, dass alles nicht so war, wie ich dachte. Aber dann, am Ende, war es eine Erleichterung. Das war Felix, mein Mann, auf dem Anrufbeantworter zu Hause. Wir reden noch miteinander.«
»Und Sie haben ihm eine Postkarte geschickt.«
Wieder nickte Anna. Sie nahm von Frances eine Tasse heiße Schokolade in Empfang und trank in langsamen kleinen Schlucken, »Hat Toby Ihnen die ganze Geschichte dieser Reise erzählt?«
Frances schüttelte den Kopf. »Mit ziemlicher Sicherheit nein.
Um ehrlich zu sein, im kalten Licht des Londoner Winters klang das alles ein bisschen weit hergeholt. Nein!« Sie streckte Anna die Hand entgegen, als diese den Mund öffnete, um zu protestieren. »Ich will damit nicht sagen, dass es nicht tatsächlich geschehen ist. Offensichtlich ist etwas Furchtbares passiert. Ich sage nur, es fiel mir schwer, mir das alles vorzustellen. Andys Tod war schrecklich genug für mich.
Vielleicht kann ich im Moment nicht mehr verkraften.«
Anna nickte langsam. Ihre Finger schoben sich tastend in den Kragen ihrer Bluse und schlossen sich um Ibrahims Amulett.
»Ich würde gerne sein Grab besuchen«, sagte sie. »Ihm ein paar Blumen bringen. Ihm sagen, dass es mir Leid tut.«
Frances warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie zögerte, offensichtlich um die richtige Antwort bemüht. »Anna, meine Liebe, Sie waren doch nicht etwa in Andy verliebt?«
»In ihn verliebt!« Anna war schockiert. »Aber nein, natürlich nicht!«
»Ich wollte nur sicher sein.«
Ein langes Schweigen trat ein. Anna suchte nach Worten, auf unsicherem Terrain;
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