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Das Lied der alten Steine

Das Lied der alten Steine

Titel: Das Lied der alten Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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sollst so viel Zeit haben, wie du brauchst.« Er stand auf, um die Tür für sie zu öffnen. Als sie an ihm vorbeiging, beugte er sich zu ihr und küsste sie auf die Wange.
    »Dass ich dich getroffen habe, war das Beste, was mir seit langer Zeit passiert ist, Anna.«
    Sie lächelte. »Das freut mich.«
    Erst nachdem sie gegangen war, wurde ihm klar, dass sie nicht gesagt hatte, dass es ihr mit ihm genauso erging.
    Ihr kleines Schlafzimmer unter dem Dach war sehr beruhigend im Licht der Nachttischlampe mit dem Blumenmusterschirm.
    Sie streifte die Schuhe ab und schaute sich um, während sie von ihrem Whisky nippte. Hier fühlte sie sich sicher. Hier wurde sie ernährt und versorgt auf eine Weise, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte, seit ihrer Kindheit wohl nicht mehr. Sie mochte Frances sehr und vertraute ihr. Sie hatte Toby gern.
    Vielleicht liebte sie ihn sogar. Warum also war sie plötzlich so voll dunkler Ahnungen?
    Sie ging zu der kleinen Kommode hinüber, die als Toilettentisch diente, und schaute in den Spiegel. Ihr Gesicht war hager und angespannt und sie war blass, das fand sie sogar selbst. Na-türlich lag ihr Gesicht im Schatten, da das Licht von hinten kam.
    Die Sonne war hervorgebrochen. Sie war jetzt so hell und schien zudem von der Seite her, sodass sie geblendet die Augen zusammenkneifen musste. Der Widerschein wurde etwas klarer.
    Sie konnte Klippen sehen; einen Vogel, der langsam über den Himmel flog; ein Palmenblatt, das ans Fenster pochte…
    »Nein!« Sie wirbelte herum, sodass ihr Whiskyglas durch die Luft flog. Es traf die Ecke der Kommode und zersplitterte; der Whisky regnete auf Bürste und Makeup. Sie schloss die Augen und holte tief Atem. Als sie sie wieder öffnete, sah das Zimmer aus wie immer. Warm. Behütet. Sicher. Mit zitternden Händen sammelte sie das Glas auf und warf die Scherben in den Papierkorb. Sie wischte gerade den Whisky mit Papiertüchern auf, als es an die Tür klopfte. »Anna? Ist alles in Ordnung?«, rief Toby leise.
    Sie biss sich auf die Lippe. Hinter ihren Lidern brannten die ersten Tränen. Schweigend ließ sie die zerknüllten Tücher fallen, ging zum Bett, legte sich hin und zog das Kissen über den Kopf.
    »Anna? Schläfst du?« Nach einer Pause hörte sie, wie er die Treppe hinunterging. Und zehn Minuten später, wie er auf der stillen Straße den Wagen anließ und davonfuhr.
    Als sie erwachte, war es draußen dunkel. Die Lampe brannte noch, das Kissen hielt sie fest in den Armen. Sie war vollständig angekleidet und das Zimmer roch scheußlich nach schalem Whisky. Stöhnend schleppte sie sich aus dem Bett und schaute auf die Uhr. Es war vier Uhr morgens. Sie zog sich aus und schlich hinunter zum Badezimmer, spülte die whiskygetränkten Tücher ab und ließ sich ein heißes Bad ein. Sie hoffte, das Geräusch des einlaufenden Wassers würde Frances nicht wecken, aber sie musste unbedingt den Gestank der Angst abwaschen, der an ihrer Haut haftete, die sandige Hitze, den elenden Wüstenschweiß, der in ihren Poren steckte. Sie lag lange da, den Blick auf die blassrosa Fliesen hinter den Wasserhähnen gerichtet, dann stieg sie endlich aus der Wanne und hüllte sich in ein Handtuch. Draußen auf dem Treppenabsatz vor dem Badezimmer war es ruhig, die Tür zu Frances’

    Schlafzimmer geschlossen. Oben öffnete sie das Fenster weit, ließ einen Schwall kalter Nachtluft herein, löschte dann endlich das Licht und schlüpfte ins Bett.
    Es war nach zehn Uhr, als sie aufwachte. Sie zog sich schnell an und lief hinunter, fand das Haus aber leer. Im Souterrain lag ein Zettel auf dem Küchentisch: »Ich wollte Sie ausschlafen lassen. Bin zum Mittagessen zurück. F.«
    Nachdenklich machte sie sich Kaffee. Dann ging sie hinauf ins Wohnzimmer im Erdgeschoss. Von Toby keine Spur. Keine Botschaft. Sie holte das Telefonbuch und fand Serenas Nummer.
    »Ich habe so gehofft, dich zu erreichen. Ich wollte dir danken, dass du mich besucht hast.«
    »Wie geht es dir?« Serenas Stimme klang fröhlich. Anna konnte im Hintergrund Musik hören. Sie erkannte die Erkennungs-melodie von Classic FM und dann die ersten Takte von Beethovens Sechster Symphonie.
    »Serena, heute Nachmittag gehe ich nach Hause. Hast du Lust, mich dort zu besuchen? Ich gebe dir die Adresse.«
    »Irgendetwas stimmt also noch nicht.« Serenas Stimme klang warm. Mitfühlend. Tröstlich.
    »Ja.« Es gelang Anna, die Tränen hinunterzuschlucken.
    »Irgendetwas stimmt noch ganz und gar nicht.«
    Toby und

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