Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
forschen. Jeder Mensch sehnt sich nach Geborgenheit, nach Familie. Keine Banshee kennt ihre Mutter. Sie so plötzlich vor sich zu sehen, noch dazu scheinbar lebendig, ist für alle überwältigend. Aber lass dir gesagt sein, was du siehst, ist nichts weiter als ein Echo. Ein Abbild der Erinnerung. Weder wirst du mit deiner Mutter wirklich sprechen können, noch wird sie dich wirklich je umarmen. Du spürst nur die Gefühle, die sie gehabt hat, und siehst die Bilder, die sie gesehen hat.«
Als ob das nichts wäre! Wenn ich an eben zurückdachte, wünschte ich mir, wieder dort zu sein. Es war einfach wunderbar, meine Mutter zu sehen, zu beobachten, wie sie lächelte und sprach, zu sehen, dass Papa früher normal war.
Während ich noch überlegte, trat Macius zu mir. »Bitte entschuldige, dass ich dir einen Stoß versetzt habe. Es musste sein. Du hättest vielleicht nicht mehr von allein herausgefunden.«
Ich nickte, blieb jedoch stumm. Ein Teil von mir fühlte sich immer noch verraten, als ob Macius mir meine Familie weggenommen hätte. Der andere Teil konnte nicht leugnen, dass es wirklich wie ein Rausch gewesen war, wunderschön, aber unecht.
»Ich denke, wir sollten das Training für heute abbrechen«, beschied er und wandte sich um.
»Nein!« Ich konnte jetzt nicht aufhören. Erstens hatten wir noch gar nichts erreicht, zweitens brauchte ich dringend etwas, um mich zu beschäftigen. »Ich will es noch einmal versuchen. Ich muss meine Stimme in den Griff bekommen, damit wir endlich etwas unternehmen können.«
»Du wirst deine Stimme niemals in den Griff bekommen, wenn du dich in den Echos verlierst!«
»Es war das erste Mal! Dann zeig mir, wie ich es verhindern kann.«
»Das kann ich dir nicht zeigen, das musst du selbst tun.«
»Ach komm, Macius, was soll das? Ich habe es erst einmal versucht. Wie soll ich bei diesem Tempo je lernen, mit meinen Fähigkeiten umzugehen?« Ich war zwar nicht sicher, ob ich noch einmal schreien konnte, doch ich war es mir selbst schuldig, es zu versuchen. Und Bettina ebenso.
»In Ordnung, noch einmal. Aber wehe, du hörst diesmal nicht auf mich, dann setzen wir unseren theoretischen Unterricht fort. Immerhin gibt es noch einiges, was du wissen musst.«
Na, wenn das mal keine Motivation war! Nicht, dass ich etwas gegen das theoretische Lernen hatte – nicht viel zumindest –, allerdings würde mir das im Kampf sicher nur wenig nützen. Letztlich war es egal, wie das Ding hieß, dem ich mit meiner Stimme den Kopf wegblies.
Wieder schloss ich die Augen. Es konnte doch nicht so schwer sein, zu schreien! Bei den ersten Malen hatte ich es auch geschafft, ohne viel drüber nachzudenken oder Echobilder zu sehen.
Aber da hatte ich Todesangst gehabt.
Na gut, dann noch einmal.
Wieder stellte ich mir die Kreissäge vor, wieder tauchte das Gesicht meiner Mutter vor mir auf. Die Gefühle übermannten mich erneut, dann hörte ich ihre Stimme.
»Aileen«, sagte sie. »Wenn es ein Mädchen wird, nennen wir sie Aileen, Bist du damit einverstanden?«
Die Antwort meines Vaters blieb aus, dafür hörte ich Macius rufen: »Und jetzt schrei!«
Ich atmete tief ein und hielt die Luft an. Nun musste ich nur noch schreien. Schreien, Aileen! Doch kein Ton kam mir über die geöffneten Lippen, und plötzlich spürte ich wieder die Krake in meiner Brust. Oder das, was ich dafür hielt. Das Bild meiner Mutter verschwand, um mehreren anderen Gesichtern Platz zu machen. Sie alle sahen mich an, einige von ihnen waren echt gruselige Gestalten. Sah man so aus, wenn man sechshundert Jahre als Banshee unter den Menschen gelebt hatte?
Erschrocken riss ich die Augen auf, dann endlich brach der Schrei aus mir heraus. In meinen Ohren vibrierte es, danach war alles still. Ich spürte, dass ich schrie, hörte es jedoch nicht. Im nächsten Augenblick war es, als würde der Boden unter meinen Füßen zu beben anfangen.
Ein seltsames Gefühl, trotzdem schrie ich so lange, bis ich halb erstickt nach Luft schnappen musste. Sofort zogen sich die Tentakel der Krake zurück. Ich schloss kurz die Augen, doch auch die Gesichter waren verschwunden. Nicht einmal das meiner Mutter war noch da.
Keuchend wandte ich mich um.
Macius starrte mich an, diesmal nicht besorgt, sondern erschrocken.
»Wie war ich?«, fragte ich, als sich mein Herzschlag halbwegs normalisiert hatte.
Der Wassermann antwortete nicht. Stattdessen blickte er nach oben und danach wieder auf den Fußboden. Als ich dasselbe tat, bemerkte ich, dass
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