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Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)

Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)

Titel: Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janika Nowak
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du nicht jedes Mal eine dieser Maschinen bei dir haben, wenn du dich auf die Straße begibst. Du kannst mir glauben, ein Angriff kann jederzeit und überall erfolgen. Also versuche, dir das Geräusch ins Gedächtnis zu rufen – möglichst schnell, denn wie du gesehen hast, warten die Harpyien nicht, bis du mit deiner Imagination fertig bist.«
    Okay, Vorstellungskraft hatte ich. Nicht genug, dass ich mir das alles hier hätte vorstellen können, aber für ein Sägegeräusch würde es ja wohl hoffentlich reichen.
    Ich schloss erneut die Augen und versuchte mich in die Werkstatt zurückzuversetzen. Ich stellte mir das Geräusch der Kreissäge vor, an der ich bei meinem letzten Arbeitstag gestanden hatte.
    Tatsächlich gelang es mir, und ich hörte bald das helle Geräusch beim Anlaufen der Säge und das Kreischen, welches das Sägeblatt von sich gab, wenn sich die Zähne ins Holz fraßen. Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen.
    Macius’ Atem strich über mein Ohr, als er zu flüstern begann: »Stell dir deine Seele wie einen Vorhang vor. Streck die Arme aus und teile den Vorhang. Stell dir deine Mutter vor, wie sie dahinter auf dich wartet.«
    Sofort hatte ich das Bild meiner Mutter vor Augen, ohne mich mit irgendwelchen Vorhängen aufzuhalten. Es war einfach da. Jenes Bild, das auf dem Nachtschrank meines Vaters stand.
    Doch die Frau mit den dunklen Haaren, die wahrscheinlich gefärbt waren, war nicht leblos wie auf dem Foto. Sie blickte mich direkt an und lächelte mir zu.
    Aus der Ferne drang Macius’ Stimme zu mir durch.
    »Wenn du das Echo spürst, versuch, zu schreien!«
    Ich war mir ganz sicher, dass ich das Echo spürte, es sogar sah. Trotzdem konnte ich weder den Mund öffnen noch schreien. Meine Mutter lächelte mich an, und es war das erste Mal, dass ich ihre Nähe spüren konnte. Es war, als stünde sie direkt vor mir und könnte mich jeden Moment in die Arme nehmen. Das hatte ich mir all die Jahre so verzweifelt gewünscht.
    Mama?
    Meine Mutter lächelte weiter. Sie antwortete nicht, aber das Lächeln allein war wunderbar. Dann verschob sich ihr Bild, aber es war mir egal, denn ich spürte, dass ich im Arm gehalten wurde wie ein kleines Kind.
    Im nächsten Moment nahm ich wieder etwas wahr. Meine Mutter und mein Vater, jung und gut aussehend, streichelten über ihren Bauch, der die Ausmaße eines Medizinballs hatte.
    »Aileen«, sagte meine Mutter lächelnd und fuhr meinem Vater mit der freien Hand durchs Haar. Die Geste war so zärtlich, dass es mir das Herz brach. Offenbar war mein Vater damals nicht so ein Idiot gewesen. Er war dazu geworden, weil …
    Plötzlich wechselte das Bild, und ich sah ein junges Mädchen, das mir ähnelte, doch ich war es nicht. Sie lief durch eine zerstörte Stadt. Der Zweite Weltkrieg?
    Großmutter?
    Als ich das Brummen eines Flugzeuges über mir vernahm, warf sich meine Großmutter auf den Boden und weinte …
    Schon wieder wechselte das Bild. Ich erblickte eine junge Frau in einem altmodischen Kleid, die an einem Fenster saß und nähte.

    Sie nähte Babykleidung. Ein Mann tauchte hinter ihr auf, legte ihr die Hände auf die Schultern und sagte …
    »Aileen, du musst schreien!«
    Das war nicht die Stimme des Fremden. Dabei wollte ich doch hören, was er sagte. Macius rief mich wieder und seine Stimme übertönte das Bild. Ich wollte ihm sagen, dass er still sein sollte. Das hier war meine Geschichte, die Geschichte meiner Vorfahren …
    Ein harter Stoß gegen den Rücken trieb mich nach vorn. Das Bild der nähenden Frau verlosch, und mir wurde schwindelig. Ich brauchte eine Weile, um mich wieder zu fangen, und als ich mich umsah, war ich für einen Moment verwirrt, dann wurde mir klar, dass ich noch immer in dem Tempelkeller war.
    »He, was sollte das?«, fuhr ich wütend herum.
    Macius sah mich besorgt an. »Du warst gerade dabei, dich in einem Echo zu verlieren. Wenn das passiert, bist du vollkommen schutzlos. Das darf nicht noch mal vorkommen.«
    »Ich war was?«, fragte ich. »Ich habe doch nur …«
    »Du hast deine Mutter gesehen, nicht wahr? Und auch ein paar andere Vorfahrinnen, jeweils einen starken Moment ihrer Erinnerung.«
    Woher wusste er das?
    »Du wolltest noch mehr sehen. Es kann wie eine Sucht sein, aber du darfst ihr nicht erliegen.«
    Ich schnappte nach Luft. »Woher weißt du das alles?«, sprach ich meinen Gedanken nun auch laut aus.
    »Den meisten Banshees ergeht es so, wenn sie zum ersten Mal bewusst nach den Echos in ihrer Seele

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