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Das Lied der Cheyenne

Das Lied der Cheyenne

Titel: Das Lied der Cheyenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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Großmutter war dazu bestimmt, die junge Frau reinzuwaschen. Ihr Name war Rehfrau. Sie ging gebückt und stützte ihren Körper auf einen krummen Wanderstock, aber der Blick ihrer großen Augen war immer noch klar, und ihr Verstand arbeitete wie vor vielen Wintern. »Ich grüße dich, Büffelfrau«, sagte sie, als sie das Tipi betrat, »ich werde bei dir sein, solange du unrein bist.«
    Büffelfrau grüßte ehrerbietig. Sie kannte Rehfrau, hatte in der Vergangenheit aber nur wenig mit ihr gesprochen. Es ist nicht gut, die alten Leute zu vernachlässigen, dachte sie. Alte Leute sind weise und wissen auf alles eine Antwort. Sie denken viel nach. Wenn der Donnervogel zürnt, bleiben sie ruhig, und wenn die Feinde nahen, haben sie keine Angst. Sogar im Angesicht des Todes vertrauen sie den Geistern. Das ist gut, dachte Büffelfrau, so will ich auch einmal sein. Die Zeit bei dem Schamanen hatte sie gelehrt, das Alter zu ehren und zu schätzen, und sie begegnete nicht nur Sieht-hinter-die-Berge mit großem Respekt.
    Das Mädchen, das zur Frau geworden war, stand auf und löste ihre Zöpfe. Sie war allein mit der alten Frau. Büffelhöcker hatte seinen Schild und alle heiligen Gegenstände aus dem Tipi entfernt und war mit seinen Frauen in ein anderes Zelt gezogen. Rehfrau badete sie gründlich und rieb sie mit einem Fell trocken. Danach schmierte sie den Körper des Mädchens mit roter Farbe ein. »Setz dich ans Feuer«, sagte sie zu ihr.
    Büffelfrau hängte sich das Fell um die Schultern und hockte sich in der Nähe des Feuers auf den Boden. Die Großmutter legte ein glühendes Holzstück vor sie und sagte: »Atme den Rauch mit deinem Körper. Reinige das Blut, das aus dir fließt.«
    Die Zeremonie verlief immer gleich, und Büffelfrau wusste genau, was sie zu tun hatte. Während Rehfrau süßes Gras und zerriebenen Salbei auf das glühende Holz streute, zog sie das Fell über ihren Kopf. Sie beugte sich über die Glut und fing den Rauch mit ihrem Körper auf. Dazu sang sie eines der heiligen Lieder, die sie von Sieht-hinter-die-Berge gelernt hatte. Es dauerte lange, bis die Glut verloschen war, aber sie blieb ruhig und ließ die Säuberung geduldig über sich ergehen.
    Büffelfrau und die Alte blieben vier Tage in dem Tipi. Sie waren allein, und niemand kam sie besuchen. Den Lärm der Kinder und das Bellen der Hunde hörten sie aus weiter Ferne. Sie hielten die Zeltklappe geschlossen und genossen die Abgeschiedenheit. Rehfrau erzählte aus ihrem Leben, wie es von ihr erwartet wurde, und Büffelfrau saß in der Nähe des Feuers auf einem Fell und hörte geduldig zu.
    »Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll«, sagte Rehfrau, »du bist anders als die anderen Mädchen, und ich weiß, dass du von Sieht-hinter-die-Berge auf höhere Aufgaben vorbereitet wirst. Dein Platz ist im heiligen Tipi des Schamanen, und manche sagen, dass du mit den Männern in den Krieg reiten wirst.«
    »Das ist wahr, Großmutter.«
    Rehfrau schob sich näher an das Feuer heran. Die Sonne war hinter den Wolken geblieben, und ein frischer Wind wehte durch das Dorf. Ihre Gelenke schmerzten seit vielen Wintern, und es tat gut, die Hitze auf ihren Knochen zu spüren. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie, »aber ich schätze dich. Auch mein Mann hat immer mit großer Hochachtung von dir gesprochen.«
    »Ich danke dir, Großmutter.«
    Die alte Frau nickte zufrieden. »In dieser Nacht hast du einen großen Schritt getan, meine Tochter. Du bist zur Frau geworden. Ab heute wirst du die Welt mit anderen Augen sehen, und auch dir wird man anders begegnen. Du bist jetzt eine erwachsene Frau. Du kannst einen Mann lieben, und du kannst Mutter werden. Wende dich ab, wenn dir ein Krieger begegnet. Es schickt sich nicht, mit ihm zu sprechen. Es schickt sich nicht, ihm dein Interesse zu zeigen. Schicke eine Freundin, wenn du ihm etwas zu sagen hast. Bleibe keusch. Die Frauen des Volkes sind keine Shar-ha oder Ho-he, die mit jedem nächstbesten Mann unter die Felle kriechen. Auf der ganzen Prärie schätzt man die Frauen der tsis tsis tas wegen ihrer Zurückhaltung. Denke immer daran, wenn du vor einem Mann stehst.«
    »Wie war es bei dir?«, fragte Büffelfrau. »Wie hast du einen Mann gefunden, wenn du nicht mit ihm sprechen durftest?«
    Rehfrau lächelte. »Es gibt Mittel und Wege. Ein Lächeln, eine Geste, eine Bewegung. Ein Gespräch über alltägliche Dinge. Niemand verbietet dir, einen Jungen anzusprechen, solange du dich mit ihm über das Wetter oder die

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