Das Lied der Cheyenne
Tochter.«
Büffelfrau fand langsam in die Wirklichkeit zurück. Sie blickte in die sanften Augen der alten Frau und entspannte sich. Es war nur ein Traum gewesen, nur ein Traum. Der Donnervogel hatte sich seit Tagen nicht blicken lassen. Es war windstill. Das Feuer brannte, und die heiligen Pfeile waren nicht zu sehen.
»Die Pfeile! Wo sind die Pfeile?«, rief Büffelfrau.
Rehfrau wusste nicht, was sie von dieser Frage halten sollte. Träumte das Mädchen noch? »Welche Pfeile?«
»Die heiligen Pfeile, Großmutter.«
»Der Medizinmann hat sie, das weißt du doch.«
»Frage ihn.«
»Ich weiß, dass er sie hat«, antwortete Rehfrau verwundert. »Er holt sie nur aus dem Versteck, wenn sie erneuert werden. So war es immer. Warum fragst du, meine Tochter?«
»Ich habe gesehen, wie jemand das Bündel stehlen wollte«, sagte Büffelfrau. »Eine dunkle Gestalt. Sie war in unserem Tipi, und ich habe gegen sie gekämpft. Frage den alten Mann, Großmutter! Frage ihn, wo die Pfeile sind!«
»Wenn es dich beruhigt …«
»Geh jetzt!«
Rehfrau zögerte einen Augenblick, dann verließ sie das Tipi. Eigentlich war es ihr nicht erlaubt, das Mädchen allein zu lassen, und sie spürte die neugierigen Blicke der Frauen, die vor ihren Tipis standen und kochten oder Felle gerbten. Aber Büffelfrau war die Schülerin des heiligen Mannes, und ihre Träume hatten mehr zu bedeuten als die anderer Mädchen. Der Traum hatte sie beunruhigt, und es war gut für sie und alle anderen, die Wahrheit von Sieht-hinter-die-Berge zu erfahren.
Der Schamane war erstaunt, die alte Frau zu sehen. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte: »Ich dachte, du bist bei dem Mädchen. Ist etwas geschehen, das ich wissen muss?«
Rehfrau berichtete, was sie von Büffelfrau gehört hatte. »Ich bin gekommen, weil sie deine Schülerin ist. Sie hat große Angst, und ich will ihr eine gute Nachricht bringen.«
Sieht-hinter-die-Berge beugte sich nach hinten und öffnete die Ledertasche, in der das heilige Bündel lag. »Die Pfeile sind da«, erwiderte er. Der Bericht der alten Frau hatte ihn beunruhigt, und er fügte hinzu: »Sage ihr, dass ich die Pfeile beim nächsten Sonnentanz erneuern werde. Das wird sie beruhigen.«
»Das ist gut.«
»Ich werde beten. Sage ihr das.«
Sieht-hinter-die-Berge blieb nachdenklich zurück, als die alte Frau gegangen war. Er hatte endlich eine Antwort auf die Frage bekommen, die ihn schon seit vielen Wintern quälte. Jetzt wusste er, was die Zukunft des Volkes bedrohte. Die vier heiligen Pfeile waren in Gefahr. Eine unbekannte Macht wollte sie stehlen. Etwas anderes konnte der Traum des Mädchens nicht bedeuten. Büffelfrau war dazu ausersehen, die heiligen Pfeile gegen einen überlegenen Feind zu verteidigen. Warum ausgerechnet sie? Warum eine Frau? Würde sie stark genug sein, gegen die unbekannte Macht zu bestehen? Was würde ihr Schutzgeist sagen? Erkannte sie die große Verantwortung, die ihr der Traum auferlegte? Es gab viele Fragen und wenige Antworten.
Das erkannte auch Büffelfrau, die erleichtert auf ihr Fell sank, als sie die Nachricht des Schamanen bekam. Die heiligen Pfeile waren beim Pfeilbewahrer, und es gab keine Anzeichen dafür, dass sie geraubt werden sollten. Erst vor kurzer Zeit waren die Späher zurückgekehrt und hatten berichtet, dass keine Feinde in der Nähe waren. Das Wetter sah gut aus. Nichts deutete darauf hin, dass der Donnervogel aus seinem Versteck kommen würde. Nur in ihrem Traum waren dunkle Wolken gewesen.
Das war die Aufgabe, der sie sich stellen musste. Aber wie? Sie war nicht dazu ausersehen, die vier heiligen Pfeile aufzubewahren. Dafür kam nur ein erfahrener und sehr tapferer Krieger in Frage. Ein Mann wie ihr Vater oder Bärenmann, der als kühnster Krieger der Waldleute im Westen galt. Oder Adlerkopf, der sich bei den Felsenleuten im Norden einen Namen gemacht hatte. Auch Sieht-hinter-die-Berge war vor vielen Jahren ein tapferer Krieger gewesen. Er sprach nicht oft über diese Zeit, aber viele Legenden berichteten von seinen Taten und seiner Weisheit. Er war der ideale Pfeilbewahrer. Ein tollkühner Krieger, der viele Coups geschlagen und viele Skalps erbeutet hatte. Ein Schamane, der mit den Geistern in Verbindung stand. So einen Mann gab es selten.
Wolfsgesicht, der Süße-Medizin-Häuptling am Ratsfeuer des Volkes, würde den neuen Pfeilbewahrer bestimmen, wenn Sieht-hinter-die-Berge gegangen war. In der langen Geschichte der tsis tsis tas hatte niemals eine Frau diese
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