Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Cheyenne

Das Lied der Cheyenne

Titel: Das Lied der Cheyenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
Vom Netzwerk:
ihren Fellen und wachte immer wieder auf. Sie spürte den Glanz des Mondes auf ihrem Gesicht, auch dann, wenn sie ihren Kopf unter dem Fell vergrub. Ihr Lager befand sich zwischen den schützenden Felsen, und der Wind war kaum zu hören, aber es war kälter als sonst, und sie behielt alle ihre Kleider an, damit sie nicht fror. Auch in dieser Abgeschiedenheit wagte sie es nicht, ein Feuer anzuzünden.
    Als der Mond genau in ihre Augen schien, wachte sie erneut auf. Eine seltsame Unruhe befiel sie. Sie stand auf und sah nach dem Pony, das nervös mit den Hufen stampfte. Die Ho-he? Der weiße Mann? Sie hörte ein Geräusch und fuhr herum und sah sich einem Wolf gegenüber, der sie mit glühenden Augen ansah. Es war kein gewöhnlicher Wolf. Er war so weiß wie der Schnee, der auf den Bergkuppen lag, und seine Augen loderten rot wie ein Feuer. »Folge mir«, sagte der Wolf zu ihr.
    Sie wusste jetzt, dass der Wolf von den Geistern kam, und folgte ihm in die Felsen. Er lief sehr schnell, und sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Einmal schlug er einen überraschenden Haken, und sie wäre beinahe gestolpert, als sie ihm zu folgen versuchte: Er blieb einen Augenblick stehen und sah sie an. Sie hatte das Gefühl, dass er spöttisch lächelte. Dann lief er weiter, und sie stiegen immer weiter in die Berge hinauf. Der Wolf kannte versteckte Pfade, die sie nie gefunden hätte, und er fand Öffnungen zwischen den Felsen, die auch der beste Krieger der Hundesoldaten nicht gesehen hätte. Er sagte kein Wort, während sie in immer kältere Regionen kletterten.
    Sie erreichten eine Felsbrücke, die sich über einen tiefen Abgrund spannte. Seltsamerweise hatte sie keine Angst, als der Wolf sie über den schmalen Pfad führte. Am Ende der Brücke blickte der Wolf sich nach ihr um, und wieder glaubte Büffelfrau, ein Lächeln in seinen Augen zu erkennen. »Wie weit ist es noch?«, fragte sie. Der Wolf gab keine Antwort.
    Im hellen Mondlicht liefen sie über einen felsigen Hang. Sie erreichten eine Wiese und blieben in dem kniehohen Gras stehen, das wie ein Meer im böigen Wind wogte. Wo die Felsen über die Wiese ragten, war verkrusteter Schnee. Das Mondlicht lag wie flüssiges Silber auf dem Gras und ließ den Schnee wie kostbare Steine funkeln. Seltsame Lieder klangen im Wind.
    »Du bist da«, sagte der Wolf.
    »Ich danke dir«, erwiderte Büffelfrau.
    Der Wolf verschwand in einem dunklen Loch, und sie war allein auf der Bergwiese. Sie hatte keine Angst. Sie ahnte, dass gleich ihr Schutzgeist erscheinen würde, und sie wusste, dass sie dann die lang gesuchten Antworten auf ihre Fragen bekommen würde. »Aiee«, flüsterte sie, »ich bin bereit, mein Schutzgeist.«

19
Schutzgeist
    Es begann zu schneien. Der Wind trieb dichte Flocken über die Hochebene und verfing sich in den felsigen Bergen. Er heulte und stöhnte zwischen den Felsen und sang die Lieder, die Büffelfrau aus ihren Träumen kannte. Der Himmel war ein graues Meer, und das Büffelgras verschwand unter einer weißen Decke. Jenseits der Hochebene quoll dichter Nebel aus den Tälern.
    Das Schnauben schien aus einer anderen Welt zu kommen. Ein mächtiger Büffel löste sich aus dem Flockenwirbel und stapfte über die Hochebene. Sein Fell war weiß, weißer als der Schnee und der undurchdringliche Nebel. Schmutziger Schnee wirbelte unter seinen Hufen, und seine Augen leuchteten rot, als er einige Schritte vor Büffelfrau stehen blieb. Vor seinem Maul gefror der Atem. Er war so groß, dass sie zu ihm aufschauen musste, und über seinen Hornspitzen funkelten helle Blitze.
    Die junge Frau erstarrte. Sie wusste nicht, ob sie sich in der wirklichen Welt oder in einem Traum befand. Sie war dem Büffel so nahe, dass sie seinen Atem riechen konnte. In seinen roten Augen glaubte sie ein Lächeln zu erkennen, und der rechte Vorderhuf ragte aus dem Schnee, als wollte er sie begrüßen. »Du bist Büffelfrau, die tapfere Medizinfrau der Hügelleute«, sagte er. Seine Stimme war erstaunlich hell und schien einer Frau zu gehören. »Ich grüße dich, meine Tochter. Ich bin dein Schutzgeist und bin gekommen, deine Fragen zu beantworten.«
    Sie zeigte ihre Ehrfurcht. Dies war ein großer Augenblick in ihrem Leben, und sie erlebte die gewaltige Erscheinung des weißen Büffels mit einem Gefühl, das sie nicht erklären konnte, einer Mischung aus Dankbarkeit, Angst und Respekt. »Ich grüße dich, mein Schutzgeist«, sagte sie furchtlos. »Du bist ein mächtiges Tier, und ich habe Respekt

Weitere Kostenlose Bücher