Das Lied der Dunkelheit
gegeneinander rieb und dann daran schnupperte. Arlen biss sich auf die Lippe, als sie eine Wunde nach der anderen auf diese Weise prüfte. »Du ahnst gar nicht, was du für einen Dusel hattest«, erklärte sie zum Schluss. »Als Ragen mir sagte, du seiest verletzt worden, dachte ich, es handelte sich nur um ein paar Kratzer, aber das hier …« Sie schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Hat deine Mutter dir denn
nicht beigebracht, dass man sich nachts nicht draußen im Freien aufhalten darf?«
Arlens Antwort ging in einem Schluchzer unter. Entschlossen, nicht zu weinen, kaute er auf seiner Unterlippe herum. Margrit bemerkte sein Dilemma und sprach in einem sanfteren Tonfall weiter. »Deine Wunden heilen gut«, munterte sie ihn auf. Sie nahm ein Stück Seife und fing an, vorsichtig seinen Rücken zu waschen. Arlen biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. »Nach dem Bad bereite ich einen Breiumschlag vor und lege dir einen neuen Verband an.«
Arlen nickte. »Bist du Elissas Mutter?«, erkundigte er sich.
Die Frau lachte. »Beim Schöpfer, Junge, wie kommst du bloß darauf?«
»Sie hat dich ›Mutter‹ genannt«, erwiderte Arlen.
»Ja, weil ich eine bin«, entgegnete Margrit stolz. »Zwei Söhne und drei Töchter habe ich geboren, und eines meiner Mädchen wird selbst bald Mutter.« Bekümmert schüttelte sie den Kopf. »Die arme Elissa, sie ist so reich und immer noch eine Tochter. Dabei nähert sie sich den dreißig! Es bricht ihr das Herz.«
»Ist es denn so wichtig, eine Mutter zu sein?«, wunderte sich Arlen.
Die Frau sah ihn an, als hätte er gefragt, ob die Luft zum Atmen wichtig sei. »Was gibt es Wichtigeres im Leben als die Mutterschaft?«, erklärte sie. »Es ist die Pflicht einer jeden Frau, Kinder zu bekommen, damit die Stadt stark bleibt. Deshalb erhalten Mütter auf dem Morgenmarkt die besten und erlesensten Waren. Sie werden in jeder Hinsicht bevorzugt. Nicht umsonst besteht der Hohe Rat des Herzogs samt und sonders aus Müttern. Die Männer verstehen sich darauf, mit den Händen zu arbeiten und beispielsweise alle Arten von Bauwerken zu errichten, aber Politik und Bildung überlässt man am besten
Frauen, die die Mütterschule besucht haben. Immerhin sind es Frauen, die einen neuen Herzog wählen, wenn der alte stirbt!«
»Und wieso ist Elissa dann keine Mutter?«
»Es liegt nicht daran, dass sie sich nicht bemüht«, gab Margrit zu. »Ich wette, dass sie jetzt gerade dabei ist, sich mächtig anzustrengen. Nach sechs Wochen auf der Straße wird jeder Mann zu einem Stier, außerdem habe ich ihr einen Tee zur Erhöhung der Fruchtbarkeit gebraut und ihr den Becher auf den Nachttisch gestellt. Vielleicht hilft es ja, obwohl selbst der Dümmste weiß, dass die Zeit kurz vor dem Morgengrauen am günstigsten ist, um ein Kind zu zeugen.«
»Warum haben sie es dann noch nicht getan?«, fragte Arlen. Er wusste, dass das Zeugen von Kindern irgendwie mit den Spielen zusammenhing, zu denen Renna und Beni ihn überreden wollten, aber von dem genauen Vorgang hatte er nur ziemlich unklare Vorstellungen.
»Das weiß nur der Schöpfer«, meinte Margrit. »Vielleicht ist Elissa ja unfruchtbar. Natürlich könnte es auch an Ragen liegen, aber das wäre ein rechter Jammer. Männer wie ihn gibt es nicht viele. Miln braucht seine Söhne.«
Sie seufzte. »Elissa kann froh sein, dass er sie nicht verlassen hat oder mit einem der Dienstmädchen ein Kind zeugt. Der Schöpfer weiß, dass die Mädel mehr als bereit wären, ihm zu Willen zu sein.«
»Nur um ein Kind zu haben, würde er seine Frau verlassen?«, Arlen war entsetzt.
»Schau nicht so überrascht drein, Junge. Männer brauchen Erben, und sie verschaffen sie sich auf jede erdenkliche Art und Weise. Herzog Euchor hat bereits seine dritte Gemahlin, und bis jetzt haben ihm alle ausschließlich Töchter geschenkt!«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber so einer ist Ragen nicht. Manchmal kämpfen sie miteinander wie die Horclinge, doch
er liebt Elissa, als sei sie die Sonne seines Lebens. Niemals würde er sich von ihr trennen. Genauso wenig würde sie von ihm weggehen, obwohl sie seinetwegen eine Menge aufgegeben hat.«
»Was hat sie denn aufgegeben?«, wollte Arlen wissen.
»Sie war eine Adlige, weißt du«, erklärte Margrit. »Ihre Mutter gehört dem Rat des Herzogs an. Elissa hätte gleichfalls dem Herzog dienen können, wenn sie einen Adligen geheiratet und von ihm ein Kind empfangen hätte. Aber sie hat unter ihrem Stand geheiratet, weil sie
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