Das Lied der Dunkelheit
fest.
»Jenyas Familie musste sich mit Betteln durchs Leben schlagen«, erzählte Ragen. »Ihr Vater ist blind und ihre Mutter kränkelt. Zum Glück haben sie eine gesunde, attraktive Tochter. Als sie Graig heiratete, stiegen sie und ihre Eltern um zwei gesellschaftliche Klassen auf. Er nahm die drei zu sich ins Haus, und obwohl er niemals die besten Routen zugeschanzt bekam, verdiente er genug, damit sie ihr Auskommen hatten und glücklich waren.«
Er schüttelte den Kopf. »Nun jedoch muss sie ganz auf sich allein gestellt die Miete zahlen und drei Mäuler füttern. Sie kann sich nicht einmal weit von zu Hause weg bewegen, weil sich ihre Eltern ohne sie nicht zurechtfinden.«
»Ich finde es sehr nett von dir, dass du ihr hilfst«, sagte Arlen, der sich gleich ein bisschen besser fühlte. »Als sie gelächelt hat, war sie richtig hübsch.«
»Man kann nicht allen Menschen helfen, Arlen«, erwiderte Ragen, »aber man sollte sich bemühen, diejenigen zu unterstützen, für die man etwas tun kann.«
Arlen nickte.
Sie stiegen einen serpentinenreichen Weg hinauf, bis sie vor einer stattlichen Villa standen. Eine sechs Fuß hohe Mauer mit einem Portal umgab das weitläufige Anwesen; das Haus selbst war dreistöckig und hatte Dutzende von Fenstern, in deren Glasscheiben sich das Licht spiegelte. Das Gebäude war sogar größer als die Gemeindehalle im Weiler Torfhügel, und darin fand zum Sonnenwendfest jeder Einwohner von Tibbets Bach Platz. Das Domizil und die schützende Einfriedung waren mit knallbunten Siegeln bemalt. Eine so prächtige Residenz, schlussfolgerte Arlen, konnte niemand Geringerem gehören als dem Herzog.
»Meine Mutter hatte einen Becher aus mit Siegeln geschmücktem Glas«, erzählte er. Während er noch zu den Fenstern hinaufstarrte, eilte ein schmächtiger Mann aus dem Haus, um das Portal zu öffnen. »Sie bewahrte es in einem Schrank auf, aber manchmal, wenn wir Besuch hatten, holte sie es heraus, um unseren Gästen zu zeigen, wie schön es glänzte.« Sie kamen an einem Garten vorbei, der keinerlei Spuren von Schäden durch Horclinge aufwies, und in dem mehrere Leute Gemüse ernteten.
»Dies ist eines der wenigen Häuser in Miln, das in allen Fenstern Glas hat«, verkündete Ragen stolz. »Ich würde ein
Vermögen dafür zahlen, sie mit Siegeln versehen zu lassen, damit sie bruchsicher sind.«
»Ich kenne den Trick«, behauptete Arlen, »aber man braucht einen Horcling, um die Magie zu aktivieren.«
Ragen gluckste und schüttelte den Kopf. »Dann wohl besser nicht.«
Auf dem Anwesen befanden sich noch weitere Gebäude; Hütten aus Stein mit rauchenden Kaminen, zwischen denen sich Leute hin und her bewegten wie in einem winzigen Dorf. Schmutzige Kinder tollten herum, beaufsichtigt von Frauen, die gleichzeitig irgendwelche Arbeiten verrichteten. Kaum hatten sie die Stallungen erreicht, da stand auch schon ein Pferdeknecht bereit, um Nachtauges Zügel zu übernehmen. Der Mann verbeugte sich tief, als sei Ragen ein König aus irgendeiner alten Geschichte.
»Ich dachte, wir wollten zuerst bei dir zu Hause eine Rast einlegen, ehe du zum Herzog gehst«, bemerkte Arlen.
Ragen lachte. »Das hier ist mein Zuhause, Arlen! Glaubst du, ich würde es riskieren, über offenes Land zu ziehen, ohne dass es sich für mich lohnt?«
Mit großen Augen musterte Arlen das Anwesen. »Das gehört alles dir?«, staunte er.
»Ja, das ist mein Besitz«, bestätigte Ragen. »Jemand, der es wagt, den Horclingen zu trotzen, kann sich auf die Freigebigkeit der Herzöge verlassen.«
»Aber Graigs Haus war doch so klein«, bemerkte Arlen.
»Graig war ein guter Mensch«, sagte Ragen, »aber als Kurier trat er nicht besonders hervor. Man könnte ihn allenfalls als passabel bezeichnen. Er gab sich damit zufrieden, einmal im Jahr nach Tibbets Bach zu reisen und zwischendurch regelmäßig die hiesigen Weiler abzuklappern. Ein solcher Mann verdient gerade mal genug, um seine Familie zu ernähren, aber
zu mehr reicht es nicht. Ich konnte Jenya nur deshalb einen so hohen Profit geben, weil ich die zusätzlichen Waren, die ich dem Vielfraß verkauft habe, aus meiner eigenen Tasche bezahlt habe. Graig musste sich ständig Geld von der Gilde borgen, und die berechneten ihm einen satten Zins.«
Ein hoch gewachsener Mann öffnete die Haustür und verneigte sich. Seine Miene wirkte wie versteinert, und er trug einen Rock aus hellblau gefärbter Wolle. Sein Gesicht und die Kleidung waren sauber, während die Leute, die im Hof
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