Das Lied der Dunkelheit
anzuziehen. Die Ärmel der Jacke waren zu kurz und die Stiefel so eng, dass sie seine Zehen einquetschten, aber Lady Elissa schien mit seiner Erscheinung zufrieden zu sein. Zu guter Letzt fuhr sie ihm noch mit einem Kamm durchs Haar, dann trat sie einen Schritt zurück, um ihr Werk kritisch zu mustern.
»Jetzt gefällst du mir«, beschied sie ihm lächelnd. »Achte in Anwesenheit des Herzogs auf deine Manieren, Arlen«, riet sie ihm. Arlen, der sich in den schlecht sitzenden Sachen linkisch vorkam, erwiderte ihr Lächeln und nickte.
Die Burg des Herzogs war eine Bastion inmitten der Festung Miln. Die Außenmauer bestand aus bearbeiteten, fugenlos angepassten Steinen, war über zwanzig Fuß hoch und wurde von Patrouillen aus gepanzerten Speerträgern bewacht. Ragen und Arlen gelangten durch das Tor in einen weiten Hof, der den Palast ringförmig umgab. Mit ihren vier Stockwerken und doppelt so hohen Türmen ließ das herzogliche Domizil Ragens Villa winzig aussehen. Jeder Stein war mit großen, scharf umrissenen Siegeln markiert. In sämtlichen Fenstern funkelten Glasscheiben.
Männer in Harnischen bewachten den Hof, und Pagen in den Farben des Herzogs rannten hin und her. Im Hof schufteten an die hundert Männer; Zimmerleute, Steinmetze, Schmiede und Metzger. Arlen sah Getreidesilos und Vieh, sogar ausgedehnte Gärten, die viel größer waren als die auf Ragens Anwesen. Es schien, als sei der Herzogspalast gar nicht auf die Außenwelt angewiesen, um wirtschaftlich überleben zu können. Wenn man die Tore schloss, konnte man hier eine Ewigkeit überdauern, ohne Mangel zu leiden.
Auf dem Hof herrschte ein ungeheurer Lärm, und die Ausdünstungen der Tiere sowie der Gestank, der bei den unterschiedlichsten Arbeiten entstand, verpesteten die Luft. Doch sobald sich die schweren Türflügel des Palasts hinter Arlen und Ragen geschlossen hatten, herrschte eine himmlische Ruhe und man konnte wieder tief durchatmen.
Auf dem Boden der Eingangshalle lag ein breiter, langer Teppich, und Gobelins schmückten die kühlen Steinwände. Bis auf wenige Wächter war keine männliche Person zu sehen. Dafür wirkten hier Dutzende von Frauen, deren weite Röcke raschelten, während sie ihren Tätigkeiten nachgingen. Einige schrieben Zahlen auf Schiefertafeln, und die Resultate der Berechnungen wurden von anderen in dicke Bücher eingetragen. Ein paar Frauen, die besser gekleidet waren als der Rest, stolzierten in gebieterischer Haltung umher und beobachteten die anderen beim Arbeiten.
»Der Herzog weilt im Audienzzimmer«, sprach eine dieser Damen sie an. »Er hat euch schon viel früher erwartet.«
Vor dem Audienzzimmer des Herzogs stand eine lange Menschenschlange; die meisten Wartenden waren Frauen, die Schreibfedern und Papier in den Händen hielten, doch auch ein paar gut gekleidete Männer befanden sich darunter.
»Antragsteller ohne Rang und Namen«, erklärte Ragen. »Sie alle hoffen, dass der Herzog ihnen eine Minute seiner Zeit schenkt, ehe die Abendglocke läutet und sie wieder nach draußen befördert werden.«
Die unbedeutenden Bittsteller schienen sich der Tatsache bewusst zu sein, dass das Tageslicht schon sehr bald schwinden würde, und sie stritten lebhaft miteinander, wer als Nächster an der Reihe war. Doch das Geschnatter erstarb, sobald sie Ragen erblickten. Während der Kurier ungerührt an der Warteschlange vorbeiging, verstummten die Leute, um ihm dann auf den Fersen zu folgen wie Hunde, die um Futter betteln. Sie begleiteten ihn bis vor die Eingangstür, wo die finsteren Blicke der Wachposten sie zum Stehen brachten. Als Ragen und Arlen durch die Tür traten, scharten sich die Bittsteller zusammen, um angespannt zu lauschen.
Das Audienzzimmer des Herzogs Euchor von Miln schüchterte Arlen regelrecht ein. Plötzlich kam er sich klein und
gering vor. Die Kuppel der Decke reichte mehrere Stockwerke hoch, und auf den gewaltigen Säulen, die Euchors Thron umgaben, flackerten in Halterungen steckende Fackeln. Durch eine Ummantelung verbreiteten sie ein indirektes, seltsames Licht. In jede der Marmorsäulen waren Siegel eingemeißelt.
»Wichtigere Antragsteller«, raunte Ragen dem Jungen zu und deutete auf die Frauen und Männer, die sich in dem Raum aufhielten. »Sie neigen dazu, Cliquen zu bilden.« Mit einem Kopfnicken begrüßte er eine große Gruppe von Männern, die in der Nähe der Tür herumlungerte. »Handelsprinzen«, erklärte er. »Sie werfen mit Gold um sich, um sich das Privileg zu erkaufen,
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